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aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 5/2016

Fallstudie aus der Coaching-Praxis: Überforderung mit der aktuellen Situation

Cover

Klientin

Sabine F., 26 Jahre

„Sehr geehrter Herr Lempart, ich bin im Internet auf Ihre Seite gestoßen. Seit Wochen habe ich das Gefühl, die Kurve nicht mehr zu kriegen. Es wäre toll, wenn ich bei Ihnen einen Termin für ein Coaching bekommen könnte. Viele Grüße, Sabine F.“

Mehr wusste ich nicht von der neuen Klientin. Manchmal vermitteln schon kleine sprachliche Hinweise eine Ahnung davon, wie sich Menschen ihre „Probleme“ konstruieren.

Coaching

Die Klientin erscheint pünktlich zu unserer Verabredung. Nach Small-Talk startet sie mit ihrer „Problem-Geschichte“. Meine Idee ist, sie zu einer Muster-Unterbrechung einzuladen. Womöglich hat sie sich schon etliche Male ihre Leidensgeschichte aufgesagt und dadurch ein Stück Realität geschaffen. Ich frage sie also, ob sie bereit sei für eine kleine Eingangsübung. Ein Experiment, das eher die körperliche Komponente betont als die erzählte Geschichte. Sabine willigt neugierig ein.

2016 05 Situation1Ich nenne das Experiment „Elch-Test“ und habe vorbereitend eine Kurve auf dem Boden visualisiert.

Sabine soll nun mehrmals durch ihre Kurve gehen, hin und zurück. Sie soll dabei in die Bewegungen hinein spüren, während ich sie von außen einfach auf ihrem Weg beobachte. Ich frage sie, wie sich die Kurvenlage für sie anfühlt. „Gut, das fällt mir nicht schwer.“ Ich lasse sie noch eine ganze Weile in ihrer Kurve auf und ab gehen. „Das ist eine schöne Bewegung. Irgendwie beruhigend.“

„Ich finde, Sie haben eine ziemlich stabile Kurvenlage. Ist das jetzt in meinem Büro eine Ausnahme oder kommt das auch draußen vor?“ „Es ist ja nicht immer so, dass ich das Gefühl habe, die Kurve nicht zu kriegen. Aber im Moment weiß ich einfach nicht, wie es weitergehen soll.“

Aus diesen Äußerungen höre ich sowohl Ausnahmen von der Regel, schlummernde Ressourcen sowie einen möglichen Auslöser heraus. Bevor ich aber hier schon anfange, lösungsorientiert zu arbeiten, möchte ich, dass Sabine noch eine Zeit lang in ihrer Kurve bleibt. „Was könnten Sie denn tun, um die Kurve nicht mehr zu bekommen?“ Irritierte Blicke, Absuchen des Bodens. „Nun, ich müsste mein Tempo drastisch erhöhen, dann würde ich wohl aus der Kurve fliegen.“ Ich bitte Sabine, den Versuch zu starten. Und tatsächlich: Mit jedem zusätzlichen Stundenkilometer wird es schwieriger. Bis sie schließlich aus der Kurve fliegt. Sie lacht. „Wenn ich die Bewegung langsamer angehe, komme ich sicherer durch meinen Weg.“ Sie schaut nachdenklich.

„Was könnten Sie noch tun, um nicht mehr die Kurve zu kriegen?“ Ganz spontan tritt Sabine über die Bodenmarkierungen. „Ich könnte einfach mal vom Weg abkommen und die feste Bahn verlassen. Ich finde, das fühlt sich gar nicht so schlimm an, wie ich dachte.“

Ich fasse meine Wahrnehmungen zusammen und bitte Sabine, nochmals mit etwas Abstand auf ihre Kurve zu schauen. Dann setzen wir uns hin und sprechen darüber, was diese Erfahrungen nun für ihr konkretes Thema bedeuten könnten. Das Gespräch verläuft lösungsorientiert. Sabine bittet am Ende der Stunde darum, ihre Kurve fotografieren zu dürfen. Natürlich darf sie das.

Die „Problem-Geschichte“ von Sabine verkürze ich auf ein Minimum, um einer Problemtrance vorzubeugen. Vielmehr entscheide ich mich von Anfang an für eine lösungsorientierte Intervention. Über den körperlichen Aspekt bringe ich sie von der rationalen Erklärung in eine kinästhetische Einsicht: „Es fühlt sich gar nicht so schlimm an.“

Bei der Klientin geht es um die Doppelbelastung zwischen ihrem Job in Koblenz und der Partnerschaft in Frankfurt. In der neuen Aufgabe als Sekretärin in einer IT-Firma sei sie nie richtig angekommen. Als einzige Frau fühle sie sich dort unwohl. Sie hat den Eindruck, immer wieder den Kommentaren und Blicken der Kollegen ausgesetzt zu sein.

Ich entscheide mich gegen eine Umdeutung dieser Büro-Situation. Im Hintergrund vermute ich eine starke Unzufriedenheit mit der räumlichen Trennung von Beruf und Liebe. Die „Kurve“ als Metapher für Bewegung, Strecke und Stabilität stützt meine Vermutung.

Wir einigen uns darauf, dass Sabine als Experiment das Bild der Kurve zuhause weiter ausmalt: Was müsste sie tun, um komplett aus der Kurve zu fliegen? Welche Konsequenzen ergeben sich für sie, wenn sie von der vertrauten Bahn abkommt? Was benötigt sie für eine stabile Lage in ihrer Kurve? Was kann sie als nächsten Schritt tun, um wieder die Kurve zu kriegen?

Sabine und ich trennen uns ohne weiteren Termin, sondern mit der Absprache, dass sie mir binnen 14 Tagen eine E-Mail mit ihren Ergebnissen schreibt:

„Lieber Herr Lempart, zusammen mit meinem Freund habe ich beschlossen, dass ich mir einen neuen Job in Frankfurt suche. In Koblenz bin ich nie wirklich ganz angekommen, mir fehlen meine Freunde, und die Arbeit macht mir auch keinen Spaß. Eine erste Bewerbung habe ich bereits gestern an eine Bank in Frankfurt geschickt. Ich danke Ihnen sehr für die unkomplizierte und vertrauensvolle Coaching-Stunde.“

Horst LempartHorst Lempart
Coach, Speaker und Autor, Heilpraktiker für Psychotherapie, Mitglied im VFP e.V.

info@spectrumcoaching.de

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