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aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 2/2018

Die Balintgruppe

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Wer hilft eigentlich den Helfern?

Kennen Sie das? Gut ausgebildet, den Kopf voll von theoretischem Wissen und ausgerüstet mit einem unsichtbaren Handwerkskoffer mit vielerlei praktischen Behandlungshilfen waren Sie einmal am Start, um anderen Menschen in körperlicher oder seelischer Not zu helfen – besonders dort, wo diese hilflos und deren soziales Umfeld ratlos geworden sind. Inzwischen haben Sie sich niedergelassen – auch ganz wörtlich: auf Ihrem Platz als Heilpraktiker, Therapeut, Berater oder Betreuer (immer m/w) in Ihrer Praxis oder in einem Beratungsraum in der Einrichtung, in der Sie arbeiten. „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ – das spiegelt sich noch im handverlesenen, freundlichen Ambiente der Räumlichkeiten. Innerlich hat der Zauber jedoch inzwischen Platz machen müssen: dem Druck der Verwaltungsarbeit, Dokumentationspflicht, Vorschriften und betriebswirtschaftlichen Zwängen.

Jetzt sitzen Sie – selbst so mancher Rat- und Hilflosigkeit ausgesetzt und vielleicht als Teil eines Teams in ständiger Mobbing-Alarm-Bereitschaft – wieder einmal einem hilfesuchenden Menschen gegenüber … und es ist schon die fünfte „Begegnung der besonderen Art“: wenig Emotion, dafür viel „Kopf“ auf beiden Seiten, auch weil sich Nähe und therapeutische Beziehung allerhöchstens ganz flüchtig einstellen will. Sublime Aggressivität hinter Schutzfassaden, an denen Sie mühevoll Stunde um Stunde rütteln. Langsam beschleicht auch Sie das, was den Patienten zu Ihnen geführt hat: Depression, Gefühle des Ausgebrannt-Seins und die Frage, warum hilft nichts von all dem Wissen und Können, keines der doch erprobten „Handwerkszeuge“?

Doch glücklicherweise: Dieses Phänomen ist nicht neu und das Problem ist nicht nur Ihres! Helfer sind selbst oft genug hilflos mit den Problemen der Hilfesuchenden verstrickt, überschätzen und überfordern ihre Kräfte und Möglichkeiten und werden von den Konflikten der Patienten „angesteckt“ = Helfer-Syndrom!

Michael BalintMichael Balint, 1896-1970, ungarischer Arzt, Psychoanalytiker und Therapeut, hat dies alles schon in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts erkannt: Die seelische Not, auch die körperlichen Leiden der Hilfesuchenden, spiegeln sich in der Beziehung zum Helfer, machen Therapie oft wirkungs- und Therapeuten hilflos, ziehen jene in die Beziehungsmuster seelischen Leids hinein bis zum Burnout. Parallel dazu werden ganze Arbeitsteams in internen Konflikten, Kommunikationsstörungen und Mobbing aufgerieben. Die überdurchschnittlich hohe Zahl an Drogenmissbrauch, Suizid und Burnout gerade in sozialen Berufen zeigt die Folgen eindrucksvoll.

Aus dieser Erkenntnis heraus entwickelte Balint eine Methode der konkreten Fallarbeit, mit heute weltweiter Verbreitung in allen helfenden, bio-psycho-sozialen und lehrenden Berufen (verpflichtend z.B. für Ärzte, die an der psychosomatischen Grundversorgung teilnehmen).

Wie funktioniert die Balintarbeit?

Die Balintgruppe trifft sich regelmäßig und zu verbindlich vereinbarten Terminen: monatlich = eine Doppelstunde oder jeden zweiten Monat = zwei Doppelstunden oder dreimal jährlich = jeweils ein ganzer Tag. Acht bis zwölf Menschen sitzen im Kreis in unverstelltem Blickkontakt zueinander. Die Teilnehmer berichten freiwillig in einer geschützten, angenehmen Atmosphäre im moderierten Wechselgespräch von ihren schwierigen Fällen im Berufsalltag – nichts dringt davon nach außen, nichts wird kritisiert, zensiert, bewertet, aber alles darf offen hinterfragt werden, denn es gibt hier weder richtige noch falsche Fragen oder Antworten.

Der seinen Fall Berichtende benutzt üblicherweise kein geschriebenes Konzept. Der Gruppenleiter sorgt dafür, dass der Referierende angemessenen Raum für diesen freien Bericht hat, weder von Gruppenmitgliedern unterbrochen noch kritisiert werden darf. Erst nach dem Vortrag oder einem ausschließlich dem Gruppenleiter vorbehaltenen Zwischenstopp wird der Berichtende aufgefordert, sich innerlich zurückzulehnen und sich den folgenden Wahrnehmungen, Empfindungen, Gedanken, Vermutungen, Fragen und Ideen der Gruppe zu stellen. Der Berichtende sammelt diese Rückmeldungen zunächst, ohne unmittelbar darauf einzugehen, solange, bis der Gruppenleiter ihn wieder in seine aktive Rolle zurückholt, ihn zu seinen Rückmeldungen auf die Äußerungen aus der Gruppe bittet und ihm die Möglichkeit gibt, eventuelle Ergänzungen oder Weiterführungen zum Fall einzubringen.

Die wesentliche Aufgabe des Gruppenleiters besteht darin, der Gruppe und dem Berichtenden zu verdeutlichen, was der vorgetragene Fall in der Gruppe auslöst und was dies bedeuten könnte. Er kann seine eigenen Gedanken benennen, wenn die Gruppe ins Stocken oder Schwimmen gerät oder ihm wesentlich erscheinende Aspekte auslässt. Der Vortragende bekommt dadurch Anregungen für eine neue Sichtweise, blinde Flecken werden erhellt. Er erkennt seine Wirkung auf den Patienten und seine eigenen Verhaltensmuster – und umgekehrt.

Eine abschließende Sammlung von Lösungsideen und Vermutungen über die weitere Entwicklung kann eine Gruppensitzung abrunden, bevor der Vortragende „das letzte Wort“ hat, was er aus dieser Gruppenarbeit an Anregungen mitnehmen wird. Im Nachhinein kann alles vom Betroffenen im Alltag überprüft werden und erweist sich überraschend oft als richtig und bisher ungeahnter Lösungsweg.

Und Ihr Nutzen?

Unmittelbar für den beruflichen Rahmen wird die Verbesserung der Wahrnehmungsfähigkeit, die Steigerung von Einfühlungsvermögen, Fremd- und Selbstwahrnehmung und emotionaler Intelligenz, die Verbesserung auch der kommunikativen Fähigkeiten dazu führen, dass besonders psychische Vorgänge (auch als Hintergrund von körperlichen Erkrankungen) ebenso wie Störungen der interpersonellen Beziehungen zu Patienten wie Mitarbeitern schneller und sicherer erfasst, diagnostiziert und konstruktive Lösungen zugeführt werden können. Ihr Führungsstil wird förderlicher, die Teamatmosphäre verbessert sich, Mobbing wird seltener.

Aber auch die eigene Person wird sich wesentlich verändern: Letztlich werden das Erlernen einer einfühlsamen, fassadefreien, wertschätzenden Haltung ohne Vorurteile sowie kommunikative Kompetenz und Sozialverhalten gefördert. Es resultiert das Wachstum der eigenen Persönlichkeit. Darüber hinaus wird die Fähigkeit zur Abgrenzung einerseits, aber auch zum angstfreien, echten, wertschätzenden Sich-einlassen-können nicht nur die Beziehung zwischen Helfer und Hilfesuchendem verbessern, sondern auch der eigenen Gesunderhaltung dienen, indem sie als ein Stück Psychohygiene dem eigenen Burnout vorbeugt und auf eine befriedigendere Gestaltung der beruflichen Arbeit hinwirkt.

Warum funktioniert Balintarbeit?

Was Balint schon wusste, war, dass das unbewusste Anliegen des Hilfesuchenden durch den Inhalt, aber auch durch die Art der Falldarstellung über den Vortragenden in die Gruppe geschleust wird, wobei deren v.a. emotionale Reaktion die seelische Not des Hilfesuchenden wie auch dessen Beziehungskonflikt mit dem Helfer widerspiegeln. Da dies immer die Wahrnehmung möglichst vieler Sinne beinhaltet (Körpersprache des Berichtenden, was und wie er spricht, Wahrnehmung eigener auflebender Gefühle und Körperreaktionen in der Gruppe), ist auch die Lösung automatisch ganzheitlich orientiert. So kann das neue Wissen als Menschen-Wissen gegenüber Fakten-Wissen verstanden werden.

In den Vorstellungen der Gruppen-Teilnehmer zum geschilderten Fall wird die allen Menschen angeborene „intuitive analytische Kompetenz“ aktiviert und zusammengetragen, was jedem aus dem persönlichen Blickwinkel und dem eigenen Erfahrungsspeicher aufsteigt, wobei nur das, was auch emotional erfahren worden ist, in zuvor beschriebenem Sinne genutzt werden kann. Es resultiert das momentan beste Handlungsangebot an den Vortragenden, der seinen schwierigen Fall im Mittelpunkt der Gruppe stellvertretend atmosphärisch anwesend werden lässt.

Was Balint noch nicht wusste, beweisen heute die Neurowissenschaften durch die Entdeckung der Spiegelneurone und die Erkenntnisse über die Verknüpfungsmechanismen neuronaler Strukturen des ZNS, wobei die Balintgruppe als eine Art der „Vernetzung“ mehrerer Zentralnervensysteme aufgefasst werden kann und dabei die Spiegelneurone der Beteiligten für den Austausch von Wahrnehmung, Denken, Fühlen und Handlungsimpulsen sorgen. Dazu kommt heute die gesicherte Erkenntnis, dass Menschen – anders als so manche Ideologie des „survival of the fittest“ glauben machen will – angelegt sind, Lösungen im gedeihlichen, einvernehmlichen Miteinander zu finden. Jede Gruppe ist mehr als die Summe der Individuen.

Balintarbeit ist somit auch nach mehr als einem halben Jahrhundert gerade heute eine wissenschaftlich fundierte und moderne Methode, v.a. dann, wenn Aspekte der Supervision, des Kommunikationstrainings und der Systemanalyse bei Team-Problemen integriert werden, wobei sich Wahrnehmungs-, Verarbeitungs-, Speicherungs- und Handlungsmechanismen in sozialer Organisation fundamental von üblichen Wissensvermittlungen unterscheiden – auch von bekannten Coaching-Methoden, weil die Lösungsansätze stets von der gesamten Gruppe entwickelt werden und der konkret besprochene Fall als Modell für andere Fälle wirken kann.

Die für die Balintgruppe aber wichtigste Erfahrung: Die vorgetragenen Fälle sind in aller Regel nicht dadurch „schwierig“ geworden, dass es dem berichtenden Helfer an rechtem Wissen und Können mangelt – es sitzen alle „im gleichen Boot“. Diese Erfahrung der Gleichheit vor dem „Helfer-Schicksal“, trotz bestem handwerklichen Wissen und Können immer wieder zum „hilflosen Helfer“ werden zu können und sich mit und in das Patientenleid zu verstricken, ermöglicht jedem Einzelnen ein gewisses Stück an Selbsterfahrung und kann auch zu einem wachsenden, solidarisierenden Wir-Gefühl – selbst bei fortgeschrittenen berufsgemischten Gruppen ganz unterschiedlicher Helfer – führen. Auch wächst das Bewusstsein, dass eine Gruppe immer einen „höheren Intelligenz-Grad“ besitzt als die Summe der einzelnen Teilnehmer. Einen entsprechenden, den Sozialisationsgrad erhöhenden Effekt bietet die wiederholte und intensive Begegnung im Gespräch regelmäßiger Gruppenarbeit.

Balintarbeit fördert das Wachstum der Persönlichkeit, indem die emotionale Intelligenz kontinuierlich trainiert wird. Dadurch wächst das Vertrauen in die eigenen intuitiv-analytischen Fähigkeiten. Der Teilnehmer einer Balintgruppe ist letztlich getragen von sich wiederholenden Erfahrungen eigener Urteilsfähigkeit und Kompetenz, was zu allseitiger Freiheit, Echtheit und Akzeptanz führt.

Neugierig geworden?

Balint wirkt nicht in der Theorie, sondern indem man es macht! Wer einmal unverbindlich in eine solche Gruppe „hineinschnuppern“ will: Auskunft beim Autor!

Dr. Joachim StoffelDr. Joachim Stoffel
Heilpraktiker für Psychotherapie, Balintgruppen-Leiter, Team- und Einzelberatung, Konsiliardienst
j.stoffel@beratung-sonthofen.de

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