aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 4/2019
Wir trauern, weil wir lieben
Trauerbegleitung
Der Verlust geliebter Menschen oder besonderer Lebensumstände kann in uns tiefe Trauer auslösen, denn er reißt eine große Lücke in unser Leben. Wir erleben dieses Ereignis als sehr schmerzlich und massiv einschneidend. Es bringt uns seelisch, emotional und körperlich aus dem Gleichgewicht. Dies lässt sich oft in der Körperhaltung, im Gesichtsausdruck und im (sozialen) Verhalten ablesen. Auch psychosomatische Beschwerden, wie Konzentrationsstörungen, Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Müdigkeit, Verdauungsprobleme, Magenbeschwerden, Rücken- und Gliederschmerzen bis hin zu depressiven Zuständen können auftreten.
Den Weg zur Wiederherstellung des Gleichgewichts bezeichnet man als Trauer. Obwohl Trauer ein normaler und natürlicher Prozess ist, wird sie in unserer Gesellschaft leider noch immer verdrängt. Dabei gehören Gefühle der Traurigkeit zu den ersten Basisemotionen, die wir im Kindergartenalter erleben und erlernen.
Warum trauern wir?
Trauer hilft der ohnmächtigen Seele, das Unfassbare greifbar zu machen. Sie ist die gesunde Reaktion auf Verluste, die wir durchleben müssen. Ein Heilungsprozess, der nicht unterdrückt, sondern unterstützt werden sollte. Sie ist notwendig, um Abschied, Ablösung und Trennung zu vollziehen und trotz des Verlustes weiterleben zu können.
Damit man trauernden Menschen Halt geben kann, ist es hilfreich, zu wissen, welche Gefühle sie erfahren: Da ist auf der einen Seite ein bestimmtes Maß an Selbstmitleid und Egoismus (Was tut das Schicksal mir an?). Auf der anderen Seite ist jede Trauer ein Zeichen von Liebe (Ich trauere nur um jemanden, den ich liebe!). Der Trauerweg ist ein Reifungsprozess: weg von der ersten Haltung des Selbstmitleids hin zur zweiten Haltung der Liebe.
Zeit für den Prozess
Eine konkrete Schwierigkeit bei der Bewältigung des Verlustes ist häufig die Unkenntnis darüber, wie Trauer durchlebt wird. Daraus ergibt sich Befangenheit und es entstehen Ängste im Umgang mit Betroffenen. Wissen über Trauer gibt Sicherheit und hilft, zusätzliche Belastungen und Verletzungen zu vermeiden.
Zunächst gilt es anzuerkennen, dass jeder Mensch seinen ganz eigenen Trauerprozess erfährt, der in seinem Verlauf niemals exakt vorhersehbar ist. Da das Verlustereignis mit Verstand und Gefühl nicht unmittelbar zu begreifen ist, benötigt jeder seine Zeit für die Bearbeitung.
Die 4 Trauerphasen
Trauer entwickelt sich. Wenn wir sie annehmen, geduldig mit ihr leben und sie durchlaufen, kann sie unendlich heilsam sein. Ein grobes Raster kann diesen Prozess beschreiben.
Die verschiedenen Phasen zu kennen, ist für alle Angehörigen von großem Vorteil, um die möglichen Reaktionen von Trauernden besser verstehen zu können. Menschen, die in ihrem Leben schon entsprechende Erfahrungen gemacht haben, können sich leichter in die Lage von Trauernden versetzen und sensibler mit ihnen umgehen, da sie sich an ihre eigenen Gefühle zurückerinnern.
Intellektuell können Tod und Trauer nie vollständig erfasst werden, sondern müssen immer wieder neu er- und gelebt werden. Somit können die im Folgenden vorgestellten Trauerphasen nur ein Hilfsmittel für ein besseres Verständnis sein.
• Phase 1 – Schock und Verleugnung
Während dieser Zeit sind die Hinterbliebenen kaum ansprechbar und können den Tod nicht fassen, sie wollen ihn nicht wahrhaben. Weitere mögliche Reaktionen sind: Fassung bewahren mit Schweigen, aber auch lauter Protest, Aufschreien und verzweifelte Klage. In dieser Situation ist es gesellschaftlich akzeptiert, sich unkontrolliert zu verhalten. Die Auswirkungen des Schocks sind verschieden. Es kann zu körperlichen Zusammenbrüchen kommen, an die sich der Betroffene später nicht mehr erinnert. Andere reagieren kontrolliert, wirken aber versteinert. Später berichten sie, dass sie alles wie in Trance erlebt hätten. Überbringt nicht der Arzt die Todesnachricht, ist die erste Reaktion manchmal protestierende Ungläubigkeit: „Das darf nicht wahr sein.“ Bei Katastrophen und Unfällen geht dieses Nicht-Wahrhaben-Wollen bis zu Behauptungen wie: „Da liegt ganz sicher eine Verwechslung vor.“ Ist der erste Schock überwunden, werden 3 Fragen immer wieder gestellt:
• Wie ist der Tote gestorben?
• Hat er leiden müssen?
• Hätte man das Sterben irgendwie verhindern können?
Die Phase des Schocks dauert wenige Stunden bis zu einigen Tagen. Sie ist bei plötzlichem Tod besonders intensiv ausgeprägt. Wer glaubt, bei langwierigen und schweren Krankheitsfällen den entstehenden Verlust quasi im Vorfeld abarbeiten und „erledigen“ zu können, irrt sich. Jeder erlebt diese Schockphase, bei einem plötzlichen Tod verläuft sie nur wesentlich auffälliger.
• Phase 2 – Emotion
Diese Phase ist oft mit dem Verlust der Selbstkontrolle verbunden. Das kann sich in Klagen, Weinen, Wut, Verzweiflung, auch in Vernachlässigung der eigenen Bedürfnisse, Lebensangst, Schuldgefühlen, Zweifel an oder Wut auf Gott, Todesangst und -sehnsucht äußern. Es kann die Angst, verrückt zu werden, entstehen. Und es tauchen Fragen nach dem Warum und nach dem Sinn des Lebens auf.
Manche Trauernde versuchen, sich selbst und anderen gegenüber Kontrolle zu wahren. Die Welt wird nicht mehr als wirklich, sondern wie durch einen Schleier oder Nebel erlebt. Alles vollzieht sich in einem großen Abstand. Der Trauernde kommt sich vor wie ein Beobachter, nicht wie ein Betroffener. Ein weiteres Zeichen ist große Verletzbarkeit mit Misstrauen. Man fürchtet, am Rand seiner Belastbarkeit zu stehen, was große Angst bis hin zu Panikgefühlen auslöst.
Kennzeichnend sind die unterschiedlichen Gefühlsreaktionen, die sich schnell verändern können. Diese Wechselhaftigkeit überrascht viele. Es fühlt sich so an, als ob man sich auf einer dünnen Eisdecke bewegt und nicht weiß, wann man wieder ins kalte Wasser einbrechen wird.
• Phase 3 – Auseinandersetzung
Hier besucht der Trauernde den Verstorbenen im Traum und besucht im Außen Orte des gemeinschaftlichen Erlebens. Der Verlust wird nicht mehr verdrängt, die Realität wird langsam akzeptiert. Einsamkeit und Leere werden bewusst erlebt, die Abhängigkeit gegenüber dem Verstorbenen wird erkannt. Der Trauernde wirkt oft abwesend und depressiv. Er zieht sich von anderen Menschen, Entscheidungen, Anforderungen und Gesprächen zurück, ist äußerlich verletzlich und reizbar. Er grübelt viel und macht sich selbst Vorwürfe bzgl. des Todes des geliebten Verstorbenen. Dieser wird glorifiziert, alles Negative scheint bei anderen Menschen zu liegen. Er fragt nach der Zukunft des Toten und immer wieder: Warum musste gerade er/sie sterben?
• Phase 4 – Akzeptanz
Während dieser Zeit werden die Verhaltensweisen aus der Phase des Rückzuges Schritt für Schritt wieder aufgegeben. Der erlittene Verlust wird in vollem Umfang anerkannt. Das glorifizierte Bild des Toten weicht einem, das aus Licht und Schatten besteht, der Trauernde nimmt ein realistisches Bild des Verstorbenen in sein Inneres auf.
Oft werden neue und alte Beziehungen überprüft. Es werden Veränderungen an sich selbst entdeckt, Neues wird gelernt, es entsteht frisches Selbstvertrauen. Das Leben bekommt wieder Sinn. Der Verlust wird akzeptiert, aber nicht vergessen. Dankbarkeit in Bezug auf den Verstorbenen entwickelt sich. Und manchmal wendet sich der Trauernde auch Dingen zu, woran einen der Verstorbene bisher gehindert hat.
Fazit
Einen „normalen“ Trauerverlauf und eine „angemessene“ Bewältigung gibt es nicht. Der Prozess ist nicht vorhersehbar. Sowohl die Art der Beziehung zum Verstorbenen als auch die Reaktionen der Umwelt sind sehr verschieden. Individuell ausgeprägt sind auch die persönlichen Kraftquellen und damit die Möglichkeiten zur Bewältigung von Krisen.
Der Übergang zwischen den Phasen ist fließend, es gibt immer wieder Rückfälle in eine scheinbar schon bewältigte Phase. Es kann auch geschehen, dass der Trauernde in einer bestimmten Phase stecken bleibt. Dann sprechen wir von einer schwierigen Trauer.
Handelt es sich um den ersten tiefgreifenden Verlust, können Trauernde nicht auf eigene Erfahrungen zurückgreifen und es entstehen große Unsicherheiten bzgl. der eigenen Gedanken und Emotionen.
Eine Häufung von Trennungserfahrungen innerhalb kürzester Zeit oder der plötzliche Verlust eines nahestehenden Menschen kann nicht zuletzt zu krankhaften körperlichen und seelischen Veränderungen führen, die professioneller therapeutischer Unterstützung bedürfen.
Trotz dieser Einschränkungen kann das 4-Phasen-Modell für die Begegnung eines Nichtbetroffenen mit einem trauernden Menschen nützlich sein. Es kann helfen, auf schwierige und für den Außenstehenden oft verwirrende Gefühlslagen eines Trauernden angemessen zu reagieren.
Pathologische Trauerreaktion
Beispiel: Eine Frau berichtet von ihrem Vater, der sich von der Familie und allen Freunden zurückgezogen hat. „Er verbringt Stunden am Grab meiner Mutter, die vor 9 Monaten plötzlich verstorben ist.“ Ihre Kleidung hängt noch im Kleiderschrank. Jede Veränderung wird verweigert. – Der Vater befindet sich offenbar noch immer in Trauerphase 1 (Schock mit Erstarrung und Nicht-Akzeptieren), sein Alltag wird stark beeinträchtigt. Es handelt sich um eine abnorme Trauerreaktion, die im ICD-10 in den Bereich der Anpassungsstörungen integriert wurde.
Nach dem Tod einer nahestehenden Person kann eine anhaltende komplexe Trauerreaktion („Komplizierte Trauerreaktion“) auftreten. Für diese Diagnose sollten nach DSM-5 folgende Kriterien erfüllt sein: Sie darf bei Erwachsenen frühestens 1 Jahr nach dem Ereignis gestellt werden (bei Kindern und Jugendlichen nach 6 Monaten). Der Trennungsschmerz muss so stark sein, dass er die Betroffenen in der alltäglichen Routine behindert und es zu klinisch relevanten „Einbußen psychischen Funktionierens in sozialen Bereichen, im Beruf oder anderen wichtigen Lebensbereichen kommt“. In solchen Fällen ist eine fachärztliche Behandlung notwendig.
Trauerbegleiter können unterstützen
Jeder Trauernde hat das Recht, seinen eigenen Weg zu gehen, daher ist nichts zu bewerten oder zu beurteilen. Es gibt keine große oder noch größere Trauer, da die Qualität immer die gelebte Beziehung zum Verstorbenen widerspiegelt.
Gerade in den ersten Tagen und Monaten nach dem Verlust ist es wichtig, dass Menschen da sind, die den Trauernden unterstützen.
Ein trauernder Mensch braucht Mut. Die Begleiter dürfen bestärken und den Verlust würdigen. Auf gut gemeinte Ratschläge sollte man verzichten („Zeit heilt alle Wunden“, „Sei froh, dass er nicht länger leiden musste, er war ja schon so alt“ etc.). Der Trauernde fühlt sich mit solchen Sprüchen allein! Gut ist es, einfach nur zuzuhören und präsent zu sein. Nonverbale Kommunikation, wie Geborgenheit, Wärme, Hoffnung, Kraft und Zuneigung zu geben, ist sehr hilfreich. Um jemanden halten zu können, muss man selbst Halt haben!
Denkanstöße und Hilfestellungen
- Die eigenen Gefühle anschauen und nicht verdrängen. Sie dürfen alle sein! Sie sollen durchlebt werden, auch wenn sie im ersten Moment heftig erscheinen.
- Bewusst Abschied nehmen.
- Mit Angehörigen über den Verstorbenen sprechen (z.B. in Trauergesprächskreisen, Trauercafés).
- Andenken sammeln (Gegenstände, Bücher, Bilder etc.).
- Gemeinsame Erlebnisorte aufsuchen.
- Musik, die Erinnerungen aufleben lässt, hören und dabei in sich hineinspüren.
- Geführte Meditationen (in Gruppen oder als Einzelperson).
- Trauertagebuch führen – Schreiben kann die Seele befreien und Raum für Neues schaffen.
- Geistigen Kontakt halten (mit dem Verstorbenen reden, Briefe schreiben etc.).
- Die Natur bewusst erleben. Frische Luft und Bewegung tun Seele und Körper gut!
- Für den Verstorbenen beten, ihm gute Gedanken senden (Gedanken sind unsichtbare Kräfte).
Kraftquellen – Vergangenheit und Gegenwart
Trauernde schauen gerne zurück, sie leben in der Erinnerung und werden dabei immer wieder von der Vergangenheit eingeholt. Sie dürfen aber nach und nach wieder in die Gegenwart kommen. Das ist manchmal leichter gesagt als getan. Oft möchte sich der Alltag nicht wieder einstellen, die Suche nach einem neuen Sinn macht es nicht gerade einfach. Hilfreich ist es, wenn Trauernde darauf achten, ihre Sinne wieder mehr zu nutzen. Was tut individuell gut? Sonne, Regen, Wind? Etwas schmecken, riechen, hören, fühlen? Eine neue Ordnung darf aktiv gesucht werden. Rückfälle und Angst sind ganz normal und gehören zum Leben, genau wie Fortschritte und die Freude darüber. Am Ende werden Trauernde wieder genug Kraft besitzen, um aus Einbrüchen selbst herauszufinden. Der auf dem Weg wiederentdeckte positive Sinn kann für ein neues Leben genutzt werden. Hinterbliebene stehen dann wieder fest auf dem Boden und können getrost weitergehen.
Kerstin Schaum
Trauer- und Hospizbegleiterin, Heilerin, (Buch-)Autorin, Herausgeberin, Dozentin
verlag@kerstin-schaum.de
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