Die Schlüsselrolle der Insulinsensitivität
Der Glukose-Insulin-Stoffwechsel ist ein relevantes Steuerungssystem unseres Körpers. Er bildet die Grundlage für die Energieversorgung jeder Zelle und sorgt dafür, dass Energie aus der Nahrung aufgenommen, verteilt und gespeichert wird.
Nach einer Mahlzeit wird die Nahrung im Darm zerlegt, Glukose gelangt ins Blut und der Blutzuckerspiegel steigt. Dies signalisiert der Bauchspeicheldrüse nun, das Hormon Insulin auszuschütten. Dieses wirkt wie ein Schlüssel: Es bindet an Rezeptoren auf Muskel- und Fettzellen und bewegt Glukosetransporter (GLUT4) an die Zellmembran. So wird Glukose in die Zellen geschleust, in den Muskeln zur Energiegewinnung genutzt oder als Glykogen gespeichert und im Fettgewebe für die Fettsynthese bereitgestellt. Gleichzeitig hemmt Insulin in der Leber die körpereigene Zuckerproduktion und fördert die Glykogenspeicherung. Es verschiebt den Stoffwechsel in einen anabolen Zustand, in dem Aufbau und Speicherung Vorrang haben – eine evolutionär sinnvolle Strategie, um Energie nach der Nahrungsaufnahme effizient zu verteilen und für zukünftige Bedarfsphasen zu sichern.
GEGENSPIELER VON INSULIN
Insulin repräsentiert aber nur eine Seite des Regulationssystems. Diverse Gegenspieler sorgen dafür, dass der Blutzucker in Hungerphasen oder unter Belastung nicht zu stark absinkt. Der wichtigste ist Glukagon, ebenfalls ein Hormon der Bauchspeicheldrüse. Es wird v. a. in Fastenphasen oder zwischen den Mahlzeiten aktiv, veranlasst die Leber zum Abbau von Glykogen sowie zur Glukoseproduktion und hält so den Blutzucker auch ohne Energiezufuhr stabil.
In Stresssituationen übernehmen Adrenalin und Cortisol. Adrenalin, ausgeschüttet durch das sympathische Nervensystem, mobilisiert kurzfristig die Glykogenreserven der Leber. Cortisol wirkt längerfristig, steigert die Glukoneogenese und hemmt die Insulinwirkung, um das Gehirn und zentrale Organe bevorzugt zu versorgen.
Dieses Zusammenspiel erzeugt einen Rhythmus aus Energieaufnahme und -freisetzung: Nach Mahlzeiten dominiert Insulin, in Fasten-, Belastungs- und Stressphasen regeln Glukagon, Adrenalin sowie Cortisol die Energieversorgung aus den Speichern.
ENERGIEHOMÖOSTASE
Das beschriebene Zusammenwirken gleicht einem metabolischen Pendel, das zwischen zwei Polen schwingt: Aufbau und Speicherung auf der einen Seite, Freisetzung und Mobilisierung auf der anderen. In der Evolution war dieser Rhythmus essenziell und ermöglichte flexible Anpassungen an Hunger, körperliche Aktivität und akute Belastungen. Das Gehirn, das etwa 20 % des Energieverbrauchs beansprucht und größtenteils auf Glukose angewiesen ist, profitiert dabei ebenso wie das Immunsystem, dessen Bedarf in Infektionsphasen stark ansteigt.
Das Problem der heutigen Zeit liegt nicht in der Existenz dieser Hormone oder ihrer Gegenspieler, sondern in der chronischen Überlastung des Systems. Permanente Energiezufuhr, Bewegungsmangel und Dauerstress führen zu einer Situation, in der Insulin ständig dominiert, während die Gegenspieler kaum noch ihre physiologischen Aufgaben erfüllen. Der Rhythmus von Speicherung und Freisetzung wird durchbrochen, das Fundament der metabolischen Flexibilität geht verloren.

SIGNALE MIT SINN UND MODERNE FEHLSTEUERUNG
Kurze Blutzuckerspitzen sind normal und sinnvoll. Sie signalisieren Energieverfügbarkeit und lösen die Insulinausschüttung aus, die Glukose gezielt in Muskeln, Leber und andere Gewebe verteilt. Während der menschlichen Evolution folgte auf eine seltene Mahlzeit oft körperliche Aktivität, welche die Energie unmittelbar verbrauchte. Danach senkten eine Fastenphase und die Anwesenheit kataboler Hormone den Insulinspiegel, auch die Fettverbrennung wurde aktiviert. So entstand ein natürlicher Wechsel zwischen Aufnahme, Verbrauch und Speicherung von Energie.
Doch dieses Wechselspiel hat sich grundlegend verändert: Mehrere hochkalorische Mahlzeiten, Snacks sowie gesüßte Getränke sorgen für wiederholte Blutzuckerspitzen, aber ohne anschließenden Verbrauch. Fastenintervalle fehlen, dazu reduziert Bewegungsmangel die Aufnahme in die Muskeln, unsere größten „Zuckerspeicher“. Die Folge ist eine chronisch erhöhte Insulinausschüttung. Das einst fein abgestimmte System wird zu einem chronisch dominanten Insulinsignal. Zellen reagieren weniger empfindlich, Insulinrezeptoren werden herunterreguliert: Es entsteht eine Insulinresistenz. Damit geht die Fähigkeit verloren, flexibel zwischen Energieaufnahme und -verbrauch zu wechseln, was metabolischen Störungen bis hin zu Diabetes mellitus Typ 2 den Weg ebnet.
SCHUTZ MIT NEBENWIRKUNGEN
Insulinresistenz ist nicht allein die Folge übermäßiger Kalorienzufuhr oder zuckerreicher Ernährung; sie ist eine Strategie des Organismus, um Energie unter bestimmten Bedingungen gezielt umzuleiten, v. a. in Stress- oder Belastungssituationen, in denen Gehirn und Immunsystem Vorrang haben. Dieser Mechanismus ist tief in der evolutionären Vergangenheit verwurzelt. Bei Infektionen oder Verletzungen wurde die Insulinwirkung in Muskeln und Fettgewebe gezielt reduziert, um dem immensen Energiebedarf des Immunsystems gerecht zu werden. Ähnlich verhält es sich in Phasen psychischen oder physischen Stresses: Das zentrale Nervensystem priorisiert die Energieversorgung des Gehirns und drosselt dafür die Insulinwirkung in peripheren Geweben.
In der heutigen Lebenswelt bleibt dieser Notfallmodus jedoch dauerhaft aktiv. Chronischer Stress, Schlafmangel und psychische Belastung halten die Stressachse ständig unter Spannung. Gleichzeitig bewirken hochkalorische Ernährung ohne ausreichende Bewegung und viszerales Fettgewebe, das entzündungsfördernde Botenstoffe freisetzt, eine zusätzliche Blockade der Insulinsignalwege. Der Organismus verharrt dadurch in einem Zustand vermeintlicher Belastung, der ursprünglich nur als vorübergehend vorgesehen war. In der Konsequenz chronifiziert die Insulinresistenz: Glukose verbleibt länger im Blut, Muskeln erhalten weniger Energie und Fettdepots wachsen – das Immunsystem bleibt in einer niedriggradigen Aktivierung gefangen.
Dies verdeutlicht, dass Insulinresistenz keine Fehlfunktion ist, sondern die dauerhafte Fehlaktivierung eines ursprünglich schützenden Programms – ein Resultat aus falscher Ernährung, Bewegungsmangel, Stress und Entzündung sowie Ausdruck der Diskrepanz zwischen evolutionärer Physiologie und moderner Umwelt.
VOM NOTFALLPROGRAMM ZUR FEHLSTEUERUNG
Insulinresistenz ist zunächst eine nützliche Anpassungsreaktion. Durch deren Chronifizierung wird jedoch die Balance des Energiestoffwechsels untergraben. Was früher der gezielten Versorgung von Gehirn und Immunsystem diente, gerät zu einer dauerhaften Umverteilung von Energie, die v. a. die Muskulatur benachteiligt. Diese Verschiebung zwingt den Organismus dazu, immer mehr Insulin zu produzieren, um die Resistenz der Gewebe zu überwinden. Mit der Zeit erschöpft sich die Bauchspeicheldrüse und der Blutzuckerspiegel steigt dauerhaft – der Übergang zu Diabetes mellitus Typ 2 ist geschaffen.
Auch das Nervensystem ist betroffen: Insulinrezeptoren im Gehirn verlieren ihre Empfindlichkeit, die Glukoseaufnahme von Nervenzellen sinkt, mitochondriale Energiekrisen entstehen. Die Kombination aus Energiemangel, oxidativem Stress und Entzündung fördert neurodegenerative Prozesse, wie sie bei Alzheimer beobachtet und heute als „Typ-3-Diabetes“ beschrieben werden.
Chronische Insulinresistenz ist damit mehr als eine Stoffwechselstörung: Sie ist ein Syndrom der Fehlverteilung von Energie mit weitreichenden Folgen für Gehirn, Immunsystem und periphere Gewebe.
DIAGNOSE
Die Diagnose eines gestörten Glukose-Insulin-Stoffwechsels kombiniert Laborwerte, funktionelle Tests und klinische Beobachtungen. Sie erfasst den Blutzuckerstatus, die Insulinwirkung und zugrunde liegende metabolische Muster – somit wesentlich mehr als eine einzelne Blutzuckermessung:
Der HbA1c-Wert spiegelt den durchschnittlichen Blutzucker der letzten 8-12 Wochen und zeigt frühe Dysregulationen an.
Der HOMA-IR-Wert, berechnet aus Nüchterninsulin und Nüchternglukose, ermöglicht eine Einschätzung der Insulinresistenz, oft vor erhöhten Blutzuckerwerten.
Auch die nüchterne Insulinmessung ist wichtig, da hohe Werte bei normalen Blutzuckerwerten eine Hyperinsulinämie anzeigen.
Kontinuierliche Glukosemessung (CGM) zeigt tageszeitliche Schwankungen und die Dynamik nach Mahlzeiten.
Ergänzend liefern der orale Glukosetoleranztest (oGTT) und Insulinbestimmungen Hinweise auf eine überschießende Insulinantwort oder verzögerte Regulation.
Zusätzliche Parameter, z. B. Lipidprofile (Triglyceride, HDL, LDL) und Leberwerte (ALT/GPT), erfassen Begleitstörungen, etwa Dyslipidämie und Fettleber.
Entzündungsmarker (z. B. hsCRP, IL-6) zeigen den Grad der metabolischen Entzündung an.
Klinisch sind Heißhunger, Müdigkeit nach Mahlzeiten, wachsender Taillenumfang, erhöhter Blutdruck und Hautveränderungen (Acanthosis nigricans) klare Hinweise. Eine Anamnese zu Lebensstilfaktoren (Bewegung, Ernährung, Schlaf, Stress) macht die chronische Belastung sichtbar. So entsteht eine umfassende Beurteilung, welche die Glukose- und Insulinregulation genauso berücksichtigt wie hormonelle, entzündliche und lebensstilbedingte Einflussfaktoren.
WIEDERHERSTELLUNG DER INSULINSENSITIVITÄT
Das Therapieziel sollte sein, die Insulinsensitivität wiederherzustellen und den Stoffwechsel in einen Zustand zurückzuführen, der Energie effizient verteilt und flexibel auf wechselnde Anforderungen reagiert. Dies erfordert ein komplexes Zusammenspiel auf mehreren Ebenen: eine bessere Aufnahme und Verwertung von Glukose in den Zellen, eine Entlastung der Bauchspeicheldrüse, die Regulierung entzündlicher Prozesse sowie die Harmonisierung hormoneller und nervaler Steuerungsmechanismen.
Auf der Ebene der Glukoseaufnahme und -verwertung spielt Bewegung eine Schlüsselrolle. Schon wenige Minuten Gehen nach einer Mahlzeit verbessern die Aufnahme von Glukose in die Muskeln und senken die Insulinbelastung. Krafttraining steigert die Muskelmasse, die als größtes „Zuckerdepot“ des Körpers wirkt. Auch Gewohnheiten, z. B. das Einbauen kurzer Bewegungspausen im Alltag, können die muskuläre Glukoseaufnahme verbessern und helfen, postprandiale Blutzuckerspitzen und hohe Insulinausschüttungen abzuflachen.
Parallel kann die Glukoseaufnahme im Darm moduliert werden. Ballaststoffreiche Mahlzeiten verlangsamen die Magenentleerung und binden Zucker im Darm, wodurch Glukose langsamer ins Blut gelangt. Pflanzliche Stoffe, z. B. Zimtrinden- sowie Grüntee-Extrakt (reich an EGCG), unterstützen diesen Prozess, indem sie die Glukosetransporter im Darm hemmen und die Aufnahme verlangsamen. Apfelessig sowie der Verzehr von Gemüse und Protein vor kohlenhydratreichen Speisen wirken ähnlich: Sie reduzieren die Geschwindigkeit des Blutzuckeranstiegs und entlasten das Insulinsystem. Ein weiterer Ansatz liegt in der Verbesserung der zellulären Energieverwertung. So können z. B. Berberin oder Bittermelonen- Extrakt AMPK aktivieren, einen zentralen Energiesensor der Zelle, der den Stoffwechsel von „Speicherung“ auf „Verbrauch“ umstellt. Alpha-Liponsäure stärkt die Mitochondrien und reduziert oxidativen Stress, der die Insulinsignalwege beeinträchtigen kann. Myo-Inositol wirkt direkt auf die Insulinsensitivität und verbessert die Signalübertragung in den Zellen, was besonders bei hormonell bedingter Insulinresistenz von Bedeutung ist.
Unsere Bauchspeicheldrüse profitiert von Mikronährstoffen, z. B. Chrom, das die Bindung von Insulin an seine Rezeptoren unterstützt und die Glukoseaufnahme verbessert. Auch Bockshornkleesamen-Extrakt und Bitterstoffe spielen eine Rolle, indem sie die natürliche Insulinantwort modulieren und den Blutzucker nach Mahlzeiten stabilisieren.
Auf der systemischen Ebene ist die Entzündungsregulation entscheidend. Eine chronische niedriggradige Entzündung (Metaflammation) hemmt eine Insulinwirkung nachhaltig. Bestimmte Pflanzenstoffe, etwa Hagebutten-Extrakt oder Grüntee-Polyphenole, wirken doppelt: Sie senken Entzündungsbotenstoffe und schützen die Insulinsignalwege vor oxidativer Belastung.
Neben diesen Stoffwechselwegen muss auch das Nervensystem berücksichtigt werden. Eine dauerhafte Aktivierung der Stressachse durch Cortisol und Adrenalin verstärkt die Insulinresistenz. Regelmäßiger Schlafrhythmus, vagusstimulierende Atemtechniken und gezielte Pausen im Alltag helfen, die hormonelle Balance wiederherzustellen. Selbst kurze, gezielte Kältereize oder Fastenphasen wirken wie ein Training für die Stoffwechselregulation und verbessern die Anpassungsfähigkeit des Organismus.
All diese Interventionen – von der Förderung der Glukoseaufnahme und Energieverwertung über die Entlastung der Bauchspeicheldrüse bis hin zur Regulation von Entzündung und Stress – greifen ineinander. Insulinsensitivität entsteht nicht durch eine einzelne Maßnahme, sondern durch die Wiederherstellung der physiologischen Vernetzung all dieser Ebenen. So wird der Stoffwechsel aus der chronischen Überlastung in einen Bereich flexibler Stabilität geführt, der der ursprünglichen biologischen Logik entspricht.
INSULINSENSITIVITÄT IST EIN WICHTIGES FUNDAMENT VON GESUNDHEIT
Insulinsensitivität ist mehr als ein Laborwert – sie repräsentiert einen Stoffwechsel, der flexibel, effizient und widerstandsfähig arbeitet. Ein sensibles Insulinsystem verteilt Energie gezielt: in die Muskeln für Bewegung, ins Gehirn für kognitive Leistung und zum Immunsystem in Belastungsphasen.
Insulinresistenz ist keine Fehlfunktion, sondern eine ursprünglich sinnvolle Strategie zur Energieumverteilung, die in der heutigen Umwelt chronisch aktiviert bleibt. Was einst kurzfristig schützen sollte, wird durch Überernährung, Bewegungsmangel, Stress und Entzündung zur dauerhaften Fehlsteuerung und bildet den Boden für Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Fettleber und neurodegenerative Prozesse.
Die Wiederherstellung der Insulinsensitivität bedeutet, den Organismus in einen Zustand zurückzubringen, der seiner evolutionären Programmierung entspricht. Gesunde Ernährung, Bewegung, guter Schlaf, die gezielte Gabe von Pflanzen- und Mikronährstoffen sowie Stress- und Entzündungsregulation greifen dabei ineinander. Ein insulinsensitiver Stoffwechsel steht insofern für wesentlich mehr als nur stabile Blutzuckerwerte: Er senkt Entzündungen, entlastet das Hormonsystem, stabilisiert die Energieversorgung des Gehirns und bildet die Basis für Leistungsfähigkeit und Prävention. Die Förderung der Insulinsensitivität ist daher keine kurzfristige Therapie, sondern eine Schlüsselstrategie für langfristige Gesundheit, Resilienz und gesunde Alterung.

Matthias Baum
Heilpraktiker mit Schwerpunkten klinische Psychoneuroimmunologie, funktionelle Labordiagnostik, Mikronährstofftherapie, Ernährungsberatung, Darmgesundheit und Physiotherapie, Gesundheitswissenschaftler, Dozent und Speaker
baum@gesundheitspraxis-altona.deWeitere Artikel aus dieser Ausgabe
- 1
- 2Wenn die Blase zur Schwachstelle wird
Chronische Harnwegsinfekte bei Frauen verstehen und ganzheitlich behandeln
Naturheilkunde - 3
- 5Neue Kommunikationswege finden
Wie Paarberatung helfen kann, mehr Verständnis, Zuwendung und Liebe aufzubauen
Psychotherapie