aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 5/1997
Seelische Erkrankungen und der Umgang mit seelisch Kranken
Ein Beitrag aus der Sicht der Psychologie von Viktor E. Frankl
Daß beim heutigen Menschen Stimmungen, Empfindungen, Gefühle und Neigungen eine große Rolle spielen, bleibt uns heutigen Zeitgenossen nicht verborgen, wenn wir mit Menschen umgehen. Es gibt sogar eine große Anzahl von Menschen, die mit ihren Stimmungen und Empfindungen große Probleme haben. Es sind gerade die seelisch kranken Menschen, die mit ihrer Psyche, ja dem effektiven Bereich, nicht oder nicht gut zurechtkommen. Wir fnden sie auch in unserer Praxis vor. Sie brauchen Hilfe. Wir können ihnen behilflich sein, wenn wir ihre seelischen Störungen und Krankheiten kennen. Diese Krankheiten haben ihre Gründe im somatischen und im psychischen, in bestimmten Lebensumständen und in Sinnkrisen, also im existentiellen Bereich.
Seelische Krankheitsbilder
Im somatischen Bereich haben die Psychosen ihren Grund.
Es handelt sich um Krankheiten, die durch eine bestimmte Art des Gehirnstoffwechsels bedingt sind. Als solche haben sie eine Wirkung auf die Psyche. Das Denken, Fühlen, das Empfinden, die Wahrnehmung und die Entscheidung sind davon betroffen. Endogene Depression und Manie, Schizophrenie und eine ihrer Sonderformen, die Paranoia, gehören zu diesem Formenkreis. Auch die typischen psychosomatischen Krankheiten haben ihren Grund im körperlichen Bereich und zwar da, wo schon gewisse Vorschädigungen und Dispositionen vorliegen. Jeder von uns kennt bei seinen Patienten solche Schwachpunkte, die immer wieder Schwierigkeiten bereiten können. Als Auslöser für psychosomatische Erkrankungen gilt die Psyche, nämlich Frustrationen, Ärger oder Schicksalsschläge und ganz allgemein auch Unwohlsein.
Es gibt auch sogenannte Pseudoneurosen. Auch sie haben ihren Grund in organischen Schwierigkeiten. Herzbeschwerden etwa oder Schilddrüsenstörungen sowie Nebennierenrindenprobleme haben eine Wirkung auf die Psyche des Menschen. Sie können Niedergeschlagenheit oder Euphorie, Hypermobilität oder Hypomotilität sowie Ängste und Spannungen auslösen. Es ist also an eine saubere Differentialdiagnose zu denken.
Seelische Leiden sind psychisch begründet. Ängste und Zwänge spielen hier eine große Rolle. Sie sind einfach da, ohne daß im hic et nunc ein realer Grund dafür vorliegt. Vermeintliche Gründe spielen für die Patienten in der Regel eine Rolle. Es gibt aber auch solche Ängste, die sich auf eine konkret begründete Gefahr oder Not beziehen, auf die wir bisweilen mit Flucht oder mit einem Totstellreflex reagieren. Hier gilt es gut zu untersuchen, um eine Auseinandersetzung zu ermöglichen.
Seelische Störungen können auch durch “Hyperintention” und “Hyperreflexion” (V. E. Frankl) entstehen, dadurch, daß wir meinen: Es muß etwas unbedingt gerade jetzt geschehen und sich ereignen. Wir kennen etwa in der psychotherapeutischen Praxis das Problem, daß man sich in Sexualibus übermäßig stark beobachtet, sich also selbst unter Druck setzt und es dadurch zu keinem geglückten Sexualverkehr kommen kann.
Aber auch in der Verfolgung anderer Ziele setzen sich bisweilen manche Menschen unter Druck, da nämlich, wo es um den Schlaf geht oder um berufliche Positionen, um Zensuren in der Schule, um Bewertungen beim Vorgesetzten und im Betrieb, um Liebe und um Zuneigung, überhaupt da, wo wir nach Glück streben.
Wir wissen, daß dieses verkrampfte Erreichenwollen von Zielen nicht die gewünschte Wirkung nach sich zieht. Es löst Unruhe und Unsicherheit aus, die mit entsprechenden somatischen Rückwirkungen verbunden sind.
Seelische Krankheiten durch Schicksalsschläge
Es gibt Krankheiten und Leiden die man nicht heilen kann, etwa Krebs oder Amputationen. Es gibt Todesfälle, durch die uns Angehörige, Freunde und gute Bekannte weggenommen werden. Wir können sie nicht mehr zurückholen. Es gibt das frühzeitige Ausscheiden aus dem Beruf. Dadurch verändert sich das Leben. Gewohntes geht vorüber. Neues will bewältigt sein.
Auch die berufliche Betätigung können wir nicht mehr zurückholen. Wir kennen den Pensionierungsschock. Nach einer schönen Verabschiedungsfeier durch den Betrieb sind wir ausgegrenzt aus unseren bisherigen beruflichen und geschäftlichen Beziehungen. Andere treten für uns in diese Beziehungen ein. Wir müssen diese Beziehungen lassen. Das ist nicht immer leicht, Lebenskrisen können entstehen.
So etwas wie ein Schicksalsschlag ist es für viele, wenn Kinder, die sie erzogen haben, mißraten. Viele machen sich deswegen Vorwürfe. Sie reagieren depressiv. Dennoch können sie auf das, was gewesen ist, nicht mehr zurückgreifen. Es ist nicht mehr veränderbar. Die Kinder sind so und nicht anders geworden. Aus welchen Gründen auch immer. Für Eltern ist es oftmals schwer, mit einem solchen Schicksalsschlag zurechtzukommen. Manche macht das regelrecht krank, wie sie sagen. Wir erleben sie auch in unserer Praxis, wenn wir gut hinhören.
Wie vom Schicksal geschlagen fühlen sich manche auch, wenn der Nachbar ihnen nur Böses will. Auch das gibt es. Es kann der beste Mensch nicht in Ruhe leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt. Die Grenze des eigenen Grundstücks, die auch die Grenze des nachbarlichen Grundstücks ist, kann zum Dauerproblem werden und den Blutdruck in die Höhe treiben.
Manche Menschen, empfinden es als Schlag, wenn ihre Partei, zu der sie gehören oder die sie gewählt haben, die Wahl verloren hat. Auch hier kann nichts mehr geändert werden. Nachträgliche Manipulationen sind nicht fair. Für viele scheint deswegen immer wieder die Welt unterzugehen. Wir kennen Patienten, die – wie nebensächlich –in der Praxis davon erzählen, wenn wir uns Zeit nehmen.
Es gibt noch viele andere Schicksalsschläge, die den Menschen fassungslos machen, die sein Leben verkomplizieren, die ihm Fragen stellen. Sie machen manche unruhig, mißgestimmt und ärgerlich. Seelische Verkrampfungen können dadurch entstehen, die Auswirkung haben können auf den somatischen Bereich und neurotisch imponieren. Leid, Schuld und Tod sind solche Problemfelder, die “tragische Trias” (V. E. Frankl).
Seelische Störungen durch Sinnkrisen
Heutzutage treten vermehrt seelische Störungen und Probleme und Krankheiten auf, weil man für sein eigenes oder auch für das Leben anderer keine rechte Perspektive mehr hat. Alles erscheint dunkel, trist, aussichtslos und verbaut. Viele stellen sich die Frage: Was soll das eigentlich alles noch mit dem Leben? Die alten Verhaltensregeln (auch religiöse Traditionen) werden brüchig oder gelten nicht mehr. Viele fragen sich deshalb, woran soll man sich noch halten? Sie werden unsicher. An diesen Fragen dürfen wir in der Praxis nicht vorbeigehen.
Vielen scheinen die Politiker heute nicht mehr jene Persönlichkeiten zu sein, an die man sich halten könnte, und bei denen man das Leben in guten Händen weiß. Obwohl man heute vieles hat, ist man dennoch nicht zufrieden. Wesentliches scheint dem heutigen Menschen zu fehlen. Oftmals hört man sie sagen: “lch bin doch nicht nur ein Rädchen im Getriebe”. Sie fühlen sich mehr gelebt, als daß sie selbst leben. Sie zeigen sich uns in verärgerter Traurigkeit.
Ein anderes Problem ist: Man weiß nicht, wie man Wertekonflikte lösen soll. Manche sagen: Ich sollte eigentlich gegen Abtreibung sein, stehe aber gefühlsmäßig für sie. Oder sie drücken ihren Konflikt etwa folgendermaßen aus: Ich habe abgetrieben, rede aber dennoch öffentlich gegen Schwangerschaftsabbruch, so daß andere meinen, ich würde so etwas niemals tun. Es sind unterschwellige Konflikte, die diese Menschen in unsere Praxis bringen, auch wenn sie dieses Problem nicht sofort thematisieren. Sie brauchen Orientierung.
Der Umgang mit seelischen Beschwerden
Nachdem wir die wichtigsten Störungen und seelischen Krankheiten beschrieben haben, fragen wir uns: Wie gehen wir mit diesen Menschen bestmöglich um, die diese Beschwerden haben?
Bedenken wir noch einmal die Psychosen:
Psychosen sind körperliche Krankheiten mit seelischer Auswirkung. Sie zeigen sich in Schüben oder in progressiver Weise. Der Kranke kann nichts für seine Krankheit. Keiner kann sie in seinem Leben total ausschließen. Auf der Psychose liegt also nicht etwa ein besonderer Fluch des Himmels, wie manche meinen. Solche Kranken, die an einer Psychose leiden, klagen oftmals darüber, daß sie von anderen Menschen nicht richtig verstanden werden und greifen sie verbal oder auch tätlich an.
Wir müssen die Angehörigen der Patienten, die sich als Ratsuchende an uns wenden, darauf hinweisen, daß Menschen mit einer Psychose keine Schuld an ihrer Krankheit trifft, wenn auch die Pathoplastik in ihren Aufgabenbereich fällt, wenn es der Zustand erlaubt. Wir halten übrigens jenen Menschen auch keine Schuld vor, die etwa an einer Blinddarmentzündung oder an einem Hirntumor leiden. Wer an einer Psychose leidet, braucht Medikamente, die er regelmäßig einnehmen muß. Das müssen wir solchen Patienten sagen. Naturheilmittel genügen nicht. Diese Medikamente substituieren jene Stoffe, die dem Gehirnstoffwechsel fehlen.
Der Depressive braucht darüber hinaus Schutz und Schonung. Wir müssen wissen, daß er morgens weniger kann als abends. Er ist also nicht faul und träge, wenn er morgens nicht aufstehen mag. Er darf mit anderen Menschen nicht verglichen werden, die etwa mehr könnten, aber dennoch nicht aktiv werden. Wer bei einem depressiven Menschen anmahnt, was dieser nicht kann, bringt ihn noch stärker in seine Depression hinein. Er infiziert ihn quasi in sekundärer Weise mit Traurigkeit über sich selbst.
Wir müssen zum Patienten stehen. Wir müssen ihm mitteilen: Die Krankheit geht, wenn sie nicht progressiv ist, vorüber. Es gibt wieder bessere Zeiten. In guten Momenten sollten wir das Gute und Positive am Patienten würdigen. Wenn wir ihm sagen: Du bist deswegen nicht schlecht, weil Du krank bist, so tut ihm das gut. Grundsätzlich müssen wir ihn ermuntern zum Weitergehen. Das ist unser menschlicher Dienst ihm gegenüber. Uns soll der Gedanke leiten: Der Kranke ist mehr als seine Psychose.
Der Mensch mit einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis darf seine Wahnvorstellungen haben. Ist es doch seine Krankheit, die diese produziert. Gut ist es allerdings, wenn man sich in diese Wahngebilde einfühlen kann, um sich diesem Menschen verständlich zu machen im Rahmen seines Wahngebildes. Menschen mit Psychosen sind schwer krank – Sie brauchen eine mitfühlende Begleitung.
Wichtig als Information für die Angehörigen der Patienten ist, daß derjenige, der einen Menschen in seiner Familie mit einer Psychose begleitet, sich selbst keine Schuldkomplexe einredet. Auch er ist nicht schuld an der Krankheit des anderen, auch wenn wir wissen, daß diese Krankheit erblich vordisponiert ist. Der Begleiter hat es aber in der Hand, ob der Patient über seine Krankheit mißgestimmt wird und in eine reaktive Depression fällt. Diese jedenfalls sollte vermieden werden.
Wenn wir von den psychogenen Erkrankungen des Menschen sprechen, dann ist zu bedenken, daß Erfahrungen in der Kindheit daran beteiligt sein können. Wir sollten auch nicht verheimlichen, daß eine mögliche Ursache dafür unser eigenes Verhalten sein kann, nämlich, wie wir oder andere mit diesen Menschen umgegangen sind. Ob Menschen etwa sehr ängstlich oder bis zu einem gewissen Grad zwanghaft werden, hängt sicherlich auch davon ab, wie wir mit diesen psychogenen Leidenden in der Vergangenheit umgegangen sind: Kinder lernen von der Lebensart der Eltern, entweder von ihrem Optimismus oder von ihrem Pessimismus. Eltern und auch andere Begleitpersonen sind Modell für das Verhalten Heranwachsender, das – extrem gesprochen – angenommen oder abgewehrt werden kann.
Ursache für typisch psychogene Erkrankungen sind auch Erfahrungen mit unbewältigten und mißglückten Situationen, die ängstliche Gefühle hervorrufen. Da, wo gewisse Dinge bei gewissen Gelegenheiten nicht gelingen, entsteht leicht Angst davor, ob sie beim nächsten Mal bewältigt werden. Gelingen sie uns wiederum nicht, oder nicht richtig, dann entsteht so etwas wie eine Angst, die wir mit Viktor E. Frankl auch Erwartungsangst nennen können. Mit anderen Worten: Man erwartet dann schon, daß doch alles schief geht. Und diese Angst zieht schließlich auch das Negative herbei.
Heute gibt es, auch in unserer Praxis, viele ängstliche Menschen, die sich durch das ängstliche Verhalten ihrer Umgebung noch bestätigt fühlen, und dadurch immer mehr in die Angst hineinschlittern. In der Folge trauen sich diese Menschen nicht viel zu. Obwohl nichts dagegen steht, sagen manche Menschen; ich kann diese Prüfung nicht schaffen. Oder: Obwohl die Person hinter der Ladentheke eine ordentliche und gute Person ist, heißt es: Wenn ich den Verkäufer schon sehe, wird es mir sicher schlecht. Oder: Obwohl überhaupt nichts dafür spricht, sagen manche Menschen: Wenn ich auf die Straße gehe, sacke ich sicherlich zusammen. Oder: Obwohl der Chef im Büro kein Menschenfresser ist, sagen manche: Im Gespräch mit dem Chef werde ich sicherlich nervös, und es bleibt mir die Spucke weg.
Zu bedenken ist: Wenn keine organische oder real bedrohliche Ursache da ist, braucht man keine Angst zu haben. Deswegen gilt, es abzuklären, ob bei einem überängstlichen Menschen organische oder real bedrohliche Ursachen vorliegen. Ist das der Fall, müssen sie beseitigt werden, so daß dadurch auch die Angst verschwindet.
Bei vielen Menschen, die sich ängstigen, gibt es keine organische oder anders geartete bedrohliche Ursache. Die Erwartungsangst steht vielfach dafür. Viele scheinen auch angesteckt durch ihre ängstliche, pessimistische und hoffnungslose Umgebung, die nicht optimistisch und auch nicht initiativ genug ist. Gerade asthenische Typen lassen sich leicht von Unheilspropheten leiten. Und wenn wir bedenken, welche Nachrichten die Massenmedien uns bringen, dann sind es doch mehrheitlich solche, die mit Unheil, mit Schwierigkeiten, mit Katastrophen etc. zu tun haben. Sie passen bei diesen Menschen wie der Schlüssel zum Loch.
Kommen wir noch einmal darauf zurück, wie wir mit seelisch gestörten Menschen umgehen sollen. Wenn es sich aktuell um unbegründete Ängste handelt, wäre es falsch, wenn wir aus einer gewissen wohlgemeinten Solidarität heraus uns mit diesen Menschen mitängstigen würden. Allerdings nützt auch aggressives In-Frage-Stellen der Angst oder der Zwänge nicht viel. Denn die Angst oder der Zwang ist ja eine reale Gegebenheit. Wichtig ist: Verständnis zu zeigen dafür, daß der andere Mensch Angst hat (denn er hat sie ja, wenn auch unbegründet).
Es ist notwendig, ihm nicht in Verärgerung oder angreifend zu begegnen wegen seiner “spinnigen” Ideen. Hilfreich ist: Angst- und Zwangspatienten in einer humorvollen Weise zu begegnen. Das entkrampft. Wenn zum Beispiel jemand Angst davor hat, daß der böse Nachbar nachts kommt, dann kann man diesem Menschen sagen: Wie schön wäre es doch, wenn nicht nur dieser böse Nachbar kommt, sondern mit ihm noch mehrere andere gleichzeitig. Das wäre ein ganz besonderes Erlebnis. Hoffentlich drücken sich die anderen nicht davor mitzukommen. Denn je mehr nachts auftauchen, desto interessanter wird ja die ganze Situation. Wenn wir in dieser Weise reagieren, dann verhalten wir uns im Sinne der “paradoxen Intention” (Viktor E. Frankl), die bei Erwartungsängsten angeraten ist. Wir stellen fest, daß der Patient zu lachen anfängt, wenn er sich unsere humorvollen Gedanken zu Gemüte führt. Und damit ist die Schlacht um die Angst schon halbgewonnen.
In ähnlicher Weise haben wir bei Zwängen vorzugehen. Wir fragen den Patienten: Was könnte denn passieren, wenn du nicht dreimal nachschaust, ob die Haustüre geschlossen ist? Und schließlich gilt es wieder, das, was der Patient erwartet, mit ihm in humorvoller Weise zu erwarten.
Noch einmal soll darauf hingewiesen sein, daß dieser humorvolle Umgang mit dem Kranken nur dann möglich ist, wenn nichts organisches oder äußerlich Gefährliches vorliegt. Bei älteren Menschen etwa ist bei Angst- oder Zwangszuständen auch an cerebrale Durchblutungsstörungen zu denken, die sich psychisch auswirken, sowie an Alzheimer Krankheit, die ebenso Vergeßlichkeit bewirken kann. Da, wo es sich um ein reales Angstobjekt handelt, muß man mit den geängstigten Menschen in Ruhe daüber reden, sich mit diesem auseinandersetzen. Besonders gilt das auch für Kinder und Jugendliche mit begründeter Angst. Die Psychotherapie kennt Strategien dafür.
Gedanken zur Hyperintention
Hyperintention oder auch Hyperreflexion ist nach V. E. Frankl das forcierte Denken an das, was man will. Eine forcierte Abhängigkeit, ein Erzwingenwollen. Da, wo etwa Schlaflosigkeit nicht organisch begründet werden kann, ist der Mensch, der an Schlaflosigkeit leidet, darauf hinzuweisen, daß sich sein Körper den Schlaf, den er braucht, schon holen wird. lm übrigen ist mit einem solchen Menschen darüber zu sprechen, was ihm schwer auf dem Herzen oder im Magen liegt. Zeit muß man haben für einen solchen Menschen, um mit ihm im Gespräch zu sein.
Auch eine geglückte Sexualpraktik kann nicht erzwungen werden. Denn Druck erzeugt Gegendruck. Nötig ist, die Grundlagen zu schaffen, damit sich das ereignen kann, was man sich sexuell erhofft.
Auch Liebe und Zuneigung kann man sich nicht verordnen. Sie ereignen sich als Wirkungen des liebevollen Eingehens des Einen auf den Anderen. Wer das nicht weiß, überhebt sich.
So werden auch gute Noten in der Schule nicht durch ein verkrampftes Streben erreicht. Nötig ist: Lernen und Vorbereitung und ein ruhiges Sich-Einlassen auf eine Prüfung etwa. Bei Jugendlichen wissen wir im übrigen, daß auch Drogeneinnahme ein Grund für schlechte Noten sein kann.
Gegen die Hyperintention ist folgendes zu bedenken: Es gibt noch andere Werte als maximale Leistungen. Nicht jeder kann alles gleich gut. Sich annehmen in seiner Begrenztheit ist anzuraten. Etwas total Vollkommenes gibt es nicht. Das gute Gelingen ist oftmals bis zu einem gewissen Grad auch Geschenk. Geschenke haben aber auch immer etwas mit Gnade, also einer unverdienten Gabe zu tun.
Auch bei Schicksalsschlägen, die nicht veränderbar sind, ist eine Aggression gegen sie unsinnig. Das Geschehene kann nicht rückgängig gemacht werden. Die Frage muß sein: Wie gehe ich damit um? Als Antwort stellen wir fest: Der Religiöse hat seine Religion. In der Regel helfen dem Religiösen seine religiösen Gedanken, um zurechtzukommen. Gut ist es, ihn in diesen Gedanken zu unterstützen. Darüber hinaus ist zu bedenken: Eine angemessene Traurigkeit und Trauer darf sein. Man braucht sich deswegen nicht zu schämen. Schicksalsschläge können dadurch besser verarbeitet werden, indem man sich auch als Leidender ausdrückt.
Neben dem Verlorenen gibt es aber noch andere Wertbereiche, die in den Blick zu rücken sind: Möglichkeiten, die zu realisieren Sinn machen. Viele Menschen machen das vor. Es ist also nicht unmöglich. Jeder hat neben dem Recht zu trauern auch die Möglichkeit zur Dankbarkeit für das Gewesene und die sinnvollen Möglichkeiten in der Zukunft. Dankbarkeit hat, wie Elisabeth Lukas betont, eine psychohygienische Funktion. Sie ist Störungsprophylaxe.
Schicksalsschläge sind nicht einseitig zu betrachten: Man kann sich ihnen gegenüber verschieden einstellen. Es gibt Einstellungswerte, die gerade bei unveränderlichem Leid, in Schuld und angesichts des Todes zum Tragen kommen können. Frühe Pensionierung kann für manchen sogar entlastend sein. Das darf man ruhig zugeben. Man muß nicht die anderen Menschen zum Maßstab für das eigene Leben machen. Nötig ist: Die eigenen Möglichkeiten wahrzunehmen und sich unabhängig zu machen von der Meinung der anderen. Und wer einen früh Pensionierten im Leben begleitet, kann ihm sagen: Ich hab Dich dennoch gern (als Mensch und als Person), auch wenn Du aus dem Arbeitsleben und soziologisch bedingten Beziehungen herausgefallen bist.
Wenn Kinder mißraten, soll die Schuld nicht allein auf den Ehepartner geschoben werden. Das kann ungerecht sein. Man sollte ferner wissen: Auch die eigenen Kinder antworten eigenständig auf die Herausforderungen des Lebens. Das gemeinsam zu bedenken, dient der Lebensbewältigung. Bei Kriminalität oder Drogenmißbrauch soll man unter Wahrung der Eigenständigkeit des anderen mitfühlen mit dem, der Drogen nimmt, wenn er sein Versagen spürt. Man soll es ihm nicht ausreden. Mit dem kriminell Gewordenen sollte man mitempfinden. Dann ist es für ihn leichter, auch selbst zu dem zu stehen, was vorgefallen ist.
Wichtig ist aber der Gedanke: Der Begleiter ist nie allein verantwortlich für das Verhalten des anderen, auch wenn er es gut mit ihm meint. Die Entscheidung bleibt immer bei diesem selbst. Der Begleiter kann wohl zu einer vernünftigen Entscheidung verhelfen, mehr aber auch nicht. Er darf dem anderen sagen: Ich mag Dich, aber ich mag nicht Deine Kriminalität oder Deine Sucht. Und er soll ihm klar machen, daß die Bewältigung von Kriminalität wie auch der Sucht mit Verzicht zu tun hat, so daß er merkt: Nur wenn er auf unsinnige Wunschbefriedigungen verzichtet, kann er geheilt werden.
Die existentielle Frustration
“Das Leiden am sinnlosen Leben” (Viktor E. Frankl), zeigt sich in einer Unzufriedenheit und Nörgelei beim betreffenden Menschen. In Wohlstandszeiten wächst diese existentielle Frustration da, wo die Traditionen schwinden. Da, wo es nicht mehr feste Regelungen gibt dafür, wie das Leben geht. Man hat zwar vieles: Geld, Besitz, Essen und Trinken, man kann jede sexuelle Lust ausleben usw. Dennoch ist man nicht zufrieden. Man leidet seelisch. Man ruiniert sich körperlich und seelisch dabei. Man wird zum Wrack und so wird man sich selbst wiederum zum Problem. Ohne Änderung oder Entgiftung kommt man nicht mehr auf einen grünen Zweig im Leben.
Existentiell frustrierte Menschen sind sehr gleichgültig. Sie brauchen Aufgaben, denen sie sich zuwenden. Wie sollen sie sich andernfalls sinnvoll erleben. Wir müssen sie ihnen bewußt werden lassen. Heilend ist, sich wertvoll zu erleben. Wenn wir nichts erreichen, sollten wir deren gute Freunde einschalten, die sie zur Nachdenklichkeit bringen können. Wir können auch auf andere Menschen verweisen, denen das Leben trotzdem sinnvoll erscheint. Wenn das Leben für diese sinnvoll ist, dann kann es grundsätzlich nicht sinnlos sein. Wir müssen auf eine Änderung der Lebensweise drängen, gerade bei exzessiver Kompensation durch Regression. Denn erst dann ist wieder das seelische Gleichgewicht gegeben, eine geistige Offenheit zur Neuorientierung. Deutlich haben wir zu machen, daß das Leben aus vielen Verzichten besteht, um größerer Ideale willen. Diese müssen wir in den Blick schieben. Kein Mensch kommt ungeschoren daran vorbei.
Noch ein Bereich sei hier erwähnt:
Die Hysterie
Hysteriker sind liebeshungrig und suchen Zuneigung durch unschöne Art und Weise. Sie erpressen andere Menschen durch ihre manipulierende Art. Sie zwingen andere durch Androhung von Aktionen an sich – bis hin zur Androhung von Selbstmord. Das erzeugt Abneigung.
Es ist schwer, mit solchen Hysterikern umzugehen. Leicht fallen wir auf ihre Manipulationen herein. Dennoch sollten wir ihnen zu erkennen geben: Ich bin nicht der Sklave Deines negativen Selbstbildes. Du brauchst auch nicht der Sklave Deines negativen Selbstbildes zu sein, wenn Du Dich um ein positives Selbstbild bemühst und dieses verstärkt zum Ausdruck bringst.
In den Klauen des Hysterikers wird das Leben zur Qual. Der Hysteriker macht einen abhängig von sich, und genießt dieses Verhalten. Man kann sich nichts mehr erlauben. Patienten sagen etwa: Die Oma unterdrückt mich.
Der Hysteriker mischt sich in unsinniger Weise ein in das Leben der anderen. Durch seine Art produziert er Schuldgefühle beim anderen, wenn dieser nicht so auf ihn eingeht, wie er es fordert.
Der Umgang mit ihnen ist sehr schwer, auch der psychotherapeutische Umgang mit ihnen. Sie wissen sich jeglicher Änderung zu entziehen. Und oftmals merkt man es selbst gar nicht richtig, wenn das der Fall ist. Eine gewisse Härte ihnen gegenüber ist nötig. Eine Härte, die zwar nicht aus einem harten Herzen kommt, aber doch aus einem gesunden Verstand, der weiß, daß es eben so und nicht anders zu gehen hat.
Pater Vinzenz B. Ganter arbeitet in eigener Heilpraxis in Neustadt/Wstr. Ausgebildet in tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie und in Logotherapie (nach V. E. Frankl) behandelt er vorwiegend Patienten mit psychischen und psychosomatischen Erkrankungen. Als studierter Theologe und Psychologe praktiziert er die ganzheitliche Behandlung des Menschen, dem er in seiner Praxis als solchem begegnet, der einerseits bis in seine Körperlichkeit hinein zu leiden vermag, wenn die Seele verwundet und der Geist nicht den entsprechenden Ausblick hat, den er andererseits aber auch dadurch leiden sieht, daß er noch keinen Weg gefunden hat, um sich mit Krankheit und körperlicher Begrenzung sinnvoll zu arrangieren.
zurück zur Übersicht dieser Ausgabe