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aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 3/2019

Wie Kopf & Bauch kommunizieren

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Sichtweise und Behandlungsoptionen der Osteopathie

In der Praxis erleben wir immer häufiger, dass Patienten, die uns wegen Rückenschmerzen, Gelenkproblemen, ISG-Blockaden, Kopfschmerzen, Tinnitus oder Schwindel aufsuchen, ebenso über unklare Magen-Darm-Störungen berichten, z.B. Nahrungsmittelunverträglichkeiten mit Durchfällen oder Magenschmerzen mit Sodbrennen, oft einhergehend mit depressiven Verstimmungen, Angst- und Panikattacken. Meist werden diese Begleitsymptome erst im Rahmen der ausführlichen Anamnese auf gezieltes Nachfragen hin erwähnt. Schulmedizinisch wurde dahingehend i.d.R. schon viel abgeklärt – es gab diverse Untersuchungen, Medikamente wurden verordnet. Bewirkten diese nichts, wurde das Problem als „psychosomatisch“ abgetan, was den Betroffenen natürlich nicht weiterhilft und ihre Beschwerden nicht bessert.

Dieser Artikel befasst sich mit dem Zusammenhang zwischen Darmstörungen und deren Auswirkungen auf unser Gehirn sowie mit den diagnostischen und therapeutischen Optionen, die wir als Osteopathen diesbezüglich haben. Da wir den Menschen insgesamt im Blick haben, sehe ich gute Möglichkeiten, ganzheitlich auf den Symptomkomplex unserer Patienten einzugehen. Wir können eine Verbindung zwischen ihren einzelnen Problemen herstellen und ihnen diese erläutern. Es ist für viele sicher erleichternd zu erfahren, dass sie sich nichts einbilden. Idealerweise lassen sich die Beschwerden dann auch lindern, und so können unsere Patienten wieder zuversichtlicher in die Zukunft schauen.

Zunächst ein kurzer Überblick zu den anatomischen und physiologischen Zusammenhängen.

Die Darm-Hirn-Achse

Das Zentrale Nervensystem (ZNS) umfasst das Rückenmark und das Gehirn im Kopf mit Großhirn (limbisches System), Zwischenhirn, Kleinhirn und Hirnstamm. Es ist von drei Hirnhäuten eingehüllt: der Dura mater, der Arachnoidea und der Pia mater (mit Liquor im Subarachnoidalraum). Sein Gewebe setzt sich aus ungefähr 86 Milliarden Nervenzellen (Neuronen) und Stützzellen (Gliazellen) zusammen und bildet die Blut-Hirn-Schranke. Hauptbestandteile sind die weiße Substanz (Nervenfasern) und die graue Substanz (Kerngebiete).

Das ZNS erhält Afferenzen (sensible Reize) aus dem Körperinneren und der Außenwelt und kontrolliert die Motorik über efferente Bahnen. Es ermöglicht Bewusstsein, Sprache, Denken, Gedächtnis, Gefühle und steuert den Schlaf-Wach-Rhythmus. Des Weiteren reguliert es das Zusammenspiel aller lebensnotwendiger Systeme, z.B. den Hormonhaushalt, den Blutkreislauf und die Sinnesorgane. (Tallen, 2016) Darmempfindungen, wie z.B. Bauchschmerzen oder Übelkeit, werden im limbischen System (v.a. in der Amygdala) verarbeitet. Das ZNS besitzt jedoch kein Areal für Verdauung oder andere Darmtätigkeiten. (Luczak, 2000)

In der Peripherie haben wir das periphere Nervensystem (PNS), das unterteilt wird in das somatische Nervensystem (zur willkürlichen Ansteuerung der Skelettmuskulatur und bewussten Wahrnehmung der Körperperipherie) und das vegetative Nervensystem (VNS), das für die unbewusste und unwillkürliche Steuerung der inneren Organe zuständig ist, bestehend aus Sympathikus (C8-L2) und Parasympathikus (Hirnstamm, Sakralmark). Auch das autonome enterische Nervensystem (ENS) im Darm lässt sich hinzuzählen.

Das ENS

Das Bauchhirn („little brain in the gut“) ähnelt strukturell und funktionell dem Gehirn. Beide sind ektodermaler Herkunft, besitzen die gleichen Zelltypen und Rezeptoren und kommunizieren über dieselben Neurotransmitter und Hormone.

Das ENS steuert alle lebensnotwendigen Magen-Darm-Funktionen autonom. Nur im Notfall, wenn z.B. eine Vergiftung droht, wird das Gehirn aktiv. Das ENS besteht aus über 100 Millionen Nervenzellen und erstreckt sich vom Ösophagus bis zum Anus. Wie ein Netzstrumpf legt sich der Plexus myentericus (Auerbach‘sche Plexus) zwischen die beiden äußeren Muskelschichten des Darms. Das innere Netz (Plexus submucosus bzw. Meissner‘sche Plexus) liegt dicht unterhalb der Schleimhaut. Der Plexus myentericus steuert die Darmmuskulatur (Peristaltik). Der Plexus submucosus beeinflusst die Funktionen der Darmschleimhaut. Beide kontrollieren die Darmdurchblutung und das Immunsystem (70% der Immunzellen sind im Darm angesiedelt).

Verbindungswege

• Nervus vagus (X) Der größte parasympathische Nerv versorgt u.a. die Dura, Teile des Ohrs, Schlundmuskulatur, Larynx sowie die glatte Muskulatur intrathorakal und abdominal bis zum Cannon-Böhm-Punkt. Er hat Druckrezeptoren am Aortabogen (Blutdruck) und Chemorezeptoren an den inneren Organen. Außerdem besitzt er Geschmacksrezeptoren auf der Epiglottis.
Informationen aus der Darmschleimhaut werden direkt in den Hirnstamm geleitet, von wo aus sie weiter verschaltet werden. 90% der Informationen laufen über sensible Fasern vom Darm zum Gehirn, nur 10% über motorische Fasern vom Gehirn zum Darm.

• Das Blut 25 verschiedene Hormone und Entzündungsproteine (Zytokine) gelangen vom Darm über das Blut zum Gehirn (Hypothalamus). Zu den wichtigsten zählen Serotonin, Melatonin, Dopamin, GABA, Peptid YY und Oxytocin. Diese haben Einfluss auf unseren Schlaf-Wach-Rhythmus, das Immunsystem, die Regulation von Blutgefäßtonus und Peristaltik sowie auf unser Schmerzempfinden. Sie fördern Motivation und Konzentration, Entspannung und Zufriedenheit, reduzieren Angst und Stress. Die verschiedenen Zytokine übernehmen wichtige Immunfunktionen, hemmen aber auch die Serotoninfreisetzung. Dadurch sinkt der Energiepegel, es kommt zu Müdigkeit, das Schmerzempfinden steigt, depressive Verstimmungen können entstehen.

• Das Darmmikrobiom Billionen von Mikroorganismen besiedeln das Innere unseres Darms, neben Pilzen und Viren auch zahlreiche Bakterienstämme. Die Bakterien übernehmen viele wichtige Aufgaben im Stoffwechsel, u.a. bilden sie Metaboliten, aus denen z.B. Serotonin, Dopamin, GABA und Oxytocin synthetisiert werden. Diese gelangen dann ins Blut und zum Gehirn oder werden von Chemorezeptoren des ENS erkannt und informativ über den Vagusnerv an das Gehirn geschickt. Daher spricht man auch von der Darm-Mikrobiom-Gehirn-Achse. Zudem tragen die Keime zur Stärkung der Tight junctions im Darm und der Blut-Hirn-Schranke bei.

Durch akuten Stress wird das „Angstprogramm“ in der Amygdala aktiviert, und in der Nebenniere werden Stresshormone (Cortisol, Adrenalin, Noradrenalin) freigesetzt. Der Sympathikotonus steigt. Der Darm reagiert u.U. mit Durchfall. Bestehen Stresssituationen und schlechte Ernährung über einen längeren Zeitraum, kippt das Gleichgewicht der Darmflora. Es kann zum Leaky-Gut-Syndrom und folgend zu Fehlreaktionen des Immunsystems kommen. Dies kann zu einer chronischen Entzündung im gesamten Körper führen und zahlreiche Krankheiten, wie Adipositas, Diabetes, Parkinson, Alzheimer, MS, Autismus, aber auch chronische Erschöpfung, Verspannungen, erhöhte Schmerzempfindung und depressive Verstimmungen nach sich ziehen.

Schulmedizinische Aspekte

Kommen Patienten das erste Mal zu einer osteopathischen Behandlung, bringen sie meistens eine Fülle an Testergebnissen mit. Diese sind zu überprüfen.

Zunächst ist es wichtig herauszufinden, ob Hinweise auf „Red Flags“ bestehen, die schulmedizinisch abgeklärt werden müssen. Bei Beschwerden im Abdomen sollte z.B. internistisch bestätigt werden, dass kein akutes Geschehen vorliegt (Entzündung, Kolik, Blutung, Ileus etc.). Über Blut-, Urin- und Stuhlanalysen, Magen- oder Darmspiegelungen und Sonographie lässt sich das beim Gastroenterologen ermitteln. Sehr oft allerdings stellt dieser keinen Befund fest und die Patienten kommen mit der Diagnose „Reizdarm“ zum Osteopathen. Leiden sie zusätzlich an depressiver Verstimmung, Angst und Panik, sollte unbedingt auch ein Neurologe hinzugezogen werden. Manchmal ist eine medikamentöse Behandlung unumgänglich, um den Gesundheitszustand zu stabilisieren.

Osteopathische Betrachtung

Diagnostik Da in der Osteopathie nicht die einzelnen Symptome im Vordergrund stehen, können wir die Problematik ganzheitlich betrachten. Über eine genaue Anamnese, Untersuchung und Spannungsdiagnostik können wir mit Sicherheit herausfiltern, warum der Patient z.B. Rückenschmerzen und gleichzeitig Verdauungsstörungen hat und sich dabei auch noch antriebsarm fühlt.

Wir beurteilen zunächst globale Aspekte: die Beweglichkeit des Patienten sowie die Extremitäten- und Wirbelsäulenmobilität. Dann können wir uns einen Eindruck vom Spannungszustand machen, im Stand oder in Rückenlage über Beine und Arme.

Anschließend testen wir die Schlüsselpunkte:

  • Diaphragma pelvis (S2 mit Anhaftung des Duralschlauchs und Einfluss über das Sacrum auf den Parasympathikus)
  • abdominales Diaphragma (wichtige Durchtritte von Gefäßen, Nerven)
  • cervico-thorakale Diaphragma
  • obere Kopfgelenke
  • Vomer-Kette
  • SSB-Untersuchung (Verbindung zur Dura, Einfluss auf Hypophyse/Hormonsystem)
  • durale Spannung

Dadurch bekommen wir eine Idee, welche Regionen wir genauer in Augenschein nehmen sollten. Die Bauchspannung kann global untersucht werden, danach die einzelnen Quadranten. Finden sich dort Auffälligkeiten, testen wir die dazugehörenden Organe und kritischen Stellen in diesem Abschnitt.

Ein weiteres Augenmerk liegt auf der venösen und arteriellen Versorgung der Region (Omentum minus bzw. Radix-Befestigung über Peritoneum an der hinteren Bauchwand, Einfluss auf die LWS-Stellung).

Getestet werden sollten auch Engstellen des Vagusnervs – sind diese frei?

  • Durchtritt Th10 Hiatus oesophagus durch Diaphragma abdominale
  • Durchtritt durch Diaphragma cervicothorakale und cervicocranialis
  • Austritt aus Foramen jugulare

Myofaszial sollten die Fascia sternochondralis (CAVE: einseitig, wegen Druckrezeptoren im Carotiswinkel) und die tiefe Frontallinie (TFL) auf ihre Spannung getestet werden.

Schließlich sollte noch eine Untersuchung der Synchondrosis-Spheno-Basilaris (SSB), der Sutura occipito-mastoidea und der Sutura petro-basilaris (Bezug zum Foramen jugulare) erfolgen.

Therapie

Die Behandlung richtet sich spezifisch nach dem jeweiligen Befund. Generell versuchen wir die Patienten zu zentrieren und das System in Balance zu bringen, sowohl auf struktureller als auch auf emotionaler Ebene. In der Folge werden „Wohlfühlhormone“ freigesetzt. Der Sympathikotonus wird verringert. Die Mobilität und Vitalität neuraler Strukturen sollten verbessert sein.

Zusätzlich können wir zu mehr Bewegung motivieren (Sport, Waldbaden etc.) und Ernährungstipps geben. Weitere Möglichkeiten zur Unterstützung sind z.B. Ohrakupunktur oder die Empfehlung geeigneter orthomolekularer Präparate, z.B. Probiotika. Ob dies notwendig ist und welche Mittel infrage kommen, lässt sich über eine Stuhlanalyse herausfinden, die wir als Heilpraktiker durchführen können.

Fazit

Für uns Osteopathen ist es nachvollziehbar, dass z.B. LWS-Schmerzen ihre Ursache im Darm haben können. Wir können zwar keinen direkten Einfluss auf das Mikrobiom unserer Patienten nehmen, doch halte ich es für wichtig, die genauen Zusammenhänge und Verbindungen zwischen den Organsystemen zu kennen. Im Fall der LWS-Problematik könnten wir mit unserer Behandlung z.B. eine fasziale Befreiung des Darms erreichen, wor- über Peristaltik und Durchblutung gesteigert werden. Dies hat einen positiven Einfluss auf den Darmstoffwechsel.

Mittelbar führt die Steigerung von Mobilität und Stoffwechselqualität wieder zu einem guten „Bauchgefühl“. In Folge könnte sich das positiv über den Vagusnerv auf das Gehirn auswirken. Schließlich führt eine besser balancierte hormonelle Situation (mehr „Wohlfühlhormone“) auch zu einer Stimmungsstabilisierung.

Claudia KillmaierClaudia Killmaier
Heilpraktikerin, Osteopathin, Physiotherapeutin

info@naturheilpraxis-killmaier.de

Foto: © illustrart / fotolia.com

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