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aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 5/2022

Progressive Muskelentspannung nach Jacobson

Cover

Stressprävention, Schmerzreduktion, Relaxation

Homeoffice und -schooling haben die Risiken sitzender Tätigkeiten neben zunehmender Mediennutzung weiter verschärft und deutlich gemacht, dass hinsichtlich Körperhaltung und -bewusstsein dringender Handlungsbedarf besteht. Neben gezieltem Fitnesstraining kann die Progressive Muskelentspannung nach Jacobson (PME) ideal dazu beitragen, das innere Gleichgewicht zu unterstützen und Verspannung zu lösen, denn sie kann einfach und vielseitig eingesetzt werden. Erkennen wir die Bedeutung der Muskulatur für unser Wohlbefinden, und verstehen, dass eine Regulation von Haltung und Kraftaufwand häufig mehr Energie freisetzen kann, so können wir wichtige Schritte zur Erlangung eines neuen Körperbewusstseins gehen und ein nachhaltiges Gefühl der Entspannung leben.

Bedeutung und Einsatz

Die Progressive Muskelentspannung stellt eine der bekanntesten und wissenschaftlich am besten erforschten Entspannungstechniken dar. Es wundert also nicht, warum sie zum festen Programm von Kur- und Rehaeinrichtungen gehört. Ob die PME nun präventiv oder unterstützend angewandt wird, ist dabei nebensächlich. Ihre einfache und zielgerichtete Handhabe erlaubt es dem Anwender, mit der eigenen Körperspannung zu arbeiten und seine Empfindungen zu verändern.

Das Wort „progressiv“ meint dabei ein „fortschreitendes Phänomen“ und möchte damit betonen, dass mit fortdauernder Anwendung und der Hinzunahme weiterer Übungen immer mehr Muskelgruppen entspannt werden. Selbstverständlich erfordert dies einen gewissenhaften und regelmäßigen Einsatz. Genauso wie die Muskeln bereits über lange Zeit anspannenden Reizen ausgesetzt waren, müssen sie lernen, auf den gegenteiligen, entspannenden Impuls zu reagieren.

Insbesondere in Deutschland ist die PME nicht mehr aus dem Gesundheits- und Rehabilitationssektor wegzudenken, denn sie gibt den Patienten ein nachhaltig wirksames Werkzeug für bessere Lebensqualität an die Hand. Ein wichtiger Grund, warum auch die Naturheilpraxis an sie denken sollte.

Geschichte

Die Methode haben wir dem US-amerikanischen Arzt Dr. Edmund Jacobson (1888-1983) zu verdanken, der intensive Forschungen am Bewegungsapparat des Menschen betrieb und dabei einen Zusammenhang zwischen muskulärer Anspannung und psychischem (innerem) Druck erkannte. Jacobson verstand, dass ein aktiviertes sympathisches Nervensystem zur Erhöhung des Muskeltonus führt, die Fasern verkürzen und verhärten und schließlich Schmerzen verursachen können, was sich belastend auf unseren Allgemeinzustand auswirkt. Das Ziel von Jacobsons Forschungen war, diesen Effekt umzukehren: durch eine entspannte und gelockerte Muskulatur das parasympathische Nervensystem zu aktivieren und so Entspannungsreize im Körper zu setzen. Dieser Vorgang sollte es erleichtern, Stressreaktionen und psychische Spannungen zu lösen.

Im Laufe seiner jahrzehntelangen Arbeit bildete Edmund Jacobson eine Vielzahl an Patienten und Schülern aus und stellte anhand bestimmter Körperhaltungen (Zähne zusammenbeißen, Bauch einziehen oder gebückte Haltung) zusammenhängende psychische Muster fest. So demonstriert etwa ein Mensch mit gebeugter Haltung die Last des Lebens auf seinen Schultern. Mit entsprechenden Übungen sollen nicht nur diese reguliert, sondern auch das zugrundeliegende Thema bearbeitet werden.

Jacobsons Erkenntnisse fanden auch zur Zeit des Zweiten Weltkrieges Anwendung, wo er viele Offiziere der US-Luftwaffe ausbildete. Diese gaben ihr Wissen an die Piloten weiter, die ihren Einsatz gestärkt und psychisch stabiler überstanden als ihre Kollegen.

Die PME erreichte Mitteleuropa erst sehr spät, Anfang der 1980er-Jahre, seither hat sie sich jedoch überall etabliert.

Strukturierter Ablauf

Das Geheimnis und die Besonderheit der PME liegt in ihrem faszinierenden Wechselspiel aus Anspannung und Entspannung bestimmter Muskelgruppen. Es benötigt dafür einen kurzen, aber spürbaren Spannungsreiz, der anschließend von einer deutlich längeren Entspannungsphase abgelöst wird. Schließlich ist das Ziel, Muskelverhärtungen zu lösen, nicht etwa, diese zu trainieren. Im Laufe meiner vielen Kurse, die ich schon für Jugendliche, Erwachsene und Senioren geben durfte, erweist es sich immer wieder aufs Neue als sinnvoll und nachhaltig wichtig, den Teilnehmern einen strukturierten Ablauf der PME zu vermitteln. Wird das Grundschema einmal verstanden, lässt es sich auf jeden Muskel anwenden. Das ist das Schöne daran und trägt zum tiefen Verständnis bei.

Dass die Muskelentspannung über das bloße An- und Entspannen entsteht, ist ein Irrglaube. So leicht können wir es uns auch wieder nicht machen. Anderenfalls wäre ein Erlernen im Kurs völlig umsonst. Deshalb möchte ich hier das Grundschema vermitteln, wie ich die einzelnen Schritte der PME lehre:

Konzentration auf die Muskelgruppe

  • Anspannungsphase
  • Konzentration auf die Anspannung
  • Spannung lösen
  • Unterschied wahrnehmen
  • Entspannung beobachten
  • Entspannung vertiefen

Die Spannungsphase muss bewusst wahrgenommen und ihre Intensität ggf. reguliert werden, wir wollen ja keine Schmerzen erzeugen. Wichtig ist, diesen Zustand 5-10 Sekunden zu halten und dann die Spannung loszulassen. Hier gilt es, den Muskel nicht sofort wieder zu drangsalieren, sondern zu spüren, wie sich sein Spannungszustand verändert. Dabei ist auch die eigene Vorstellungskraft gefragt, die dabei unterstützen soll, die Entspannung auszudehnen und den Muskeln sinnbildlich weich, locker und länger werden zu lassen. Die Kunst der Entspannungsphase ist, diese zu beobachten, mit der Atmung zu vertiefen und so dem Körper ein verändertes Empfinden zu schenken.

Muskelgruppen und Kombinationsübungen

Im Rahmen von Kuraufenthalten und klassischen, von Krankenkassen finanzierten Kursen werden i.d.R. 17 Übungen, die die meisten Körperbereiche abdecken, vermittelt und trainiert. Ich persönlich habe mich auf die Arbeit mit muskelgruppenbezogenen Übungen spezialisiert. Das heißt, ich erarbeite zuerst die fünf wichtigsten Muskelgruppen, lasse die Teilnehmer die entsprechenden Übungen durchführen und stelle abschließend das übliche, siebenstufige Gesamtprogramm vor. Die erwähnten fünf Muskelgruppen sind:

  • Arme und Hände
  • Schultern und Nacken
  • Gesicht
  • Bauch und Beckengürtel
  • Beine und Füße

Die Übungen aus den verschiedenen Muskelgruppen können auch zu Kombinationen verschmolzen werden. Wir wären damit wieder beim Prinzip der „Progressivität“ (fortschreitend). Dazu ein Beispiel: Eine Einzelübung wäre entweder die Bildung einer Faust oder die Beugung des Armes, um den Bizepsmuskel anzuspannen. Die Kombination daraus bestünde darin, gleichzeitig die Faust zu ballen und den Bizeps zu aktivieren. Die Komplexität kann gesteigert werden, indem mehrere Übungen zum selben Zeitpunkt durchgeführt werden und der Körper in der anschließenden Entspannungsphase dann noch leichter loslassen kann.

Wirkungsweise

Da es sich bei der PME um eine muskelbetonte Entspannungsmethode handelt, ist das Wirkungsfeld vordergründig auch auf dieser Körperebene angesiedelt, was auf den ersten Blick in seinen Möglichkeiten begrenzt erscheint. Öffnen wir jedoch unseren Horizont und erkennen, wie viele Krankheiten und Beschwerdebilder einen muskulären Ursprung haben und welche Rolle dabei auch die nervale Versorgung spielt, so lässt sich hier beinahe ein unerschöpfliches Feld an Anwendungsmöglichkeiten erkennen. Bezugnehmend auf die Praxis kann natürlich auch bedürfnisorientiert gearbeitet werden. Hier wissen wir durch die Zusammenarbeit mit Klienten und Patienten, wo genau die Beschwerden liegen. Das stellt sich bei Kursen mit vielen Teilnehmern schon schwieriger dar.

Die Einteilung in fünf Muskelgruppenbereiche kann helfen, einen Einblick in die Wirkungsweisen zu erhalten. Nehmen wir z.B. die Gesichtsmuskulatur – bereits für sich eine eigene Welt. An kaum einer anderen Körperstelle haben wir so viele differenzierte, feine und in ihrer Arbeitsweise einzigartige Muskeln. Sie vollbringen im Rahmen der Mimik akrobatische Meisterleistungen und drücken oft mehr über unseren inneren Zustand aus als Worte. Taucht man in diese Welt ein, kann eine Entlastung der Kiefermuskulatur erreicht, ein Druckausgleich im Nasen-Stirnhöhlenfeld herbeigeführt oder die Augen entspannt werden. Gerade Letzteres wirkt sich nach einem langen Arbeitstag positiv auf unsere Konzentration und die geistige Frische aus.

Durch die Wechselwirkung zwischen Muskulatur und innerem Empfinden wird es möglich, Gelassenheit und die Lösung psychischer Spannung zu erreichen. Beißen wir z.B. aus Wut die Zähne zusammen und schlucken Worte ungesagt herunter, kann ein gezieltes Training mit den Kieferübungen nicht nur Spannungen im Schädelknochen lösen, sondern uns auch helfen, einen anderen Umgang mit der belastenden Situation zu finden.

Unterschiede zu anderen Entspannungsmethoden

Auch wenn die PME zu den klassischen Methoden nachhaltiger Entspannung zählt, so unterscheidet sie sich deutlich von anderen Verfahren, z.B. dem Autogenen Training. Dies liegt zum einen an der körperbetonten Ausrichtung und dem Aktivierungsreiz auf den Muskel, zum anderen an den Entspannungsimpulsen, die dann muskulär spürbar werden. Der innere gelöste Zustand steht weniger im Vordergrund als bei einer Meditation oder Atemübung, da dieser ja erst durch die gelockerte Muskulatur erreicht werden soll. Die PME geht den umgekehrten Weg. Das Autogene Training wiederum lässt den körperlichen Weg fast völlig außen vor und zeigt seine Stärke in der mehrmaligen Wiederholung seiner einprägsamen Formulierungen, z.B. „Ich bin ganz ruhig und entspannt“. Hiermit arbeitet die PME weniger, sondern bleibt mit ihrem Fokus die ganze Zeit über bei der Muskulatur. Wir können somit von einer aktiven Entspannungsmethode sprechen, ähnlich wie Yoga oder Qigong, während das Autogene Training zu den passiven zählt.

Alle Methoden haben ihre Berechtigung. Patienten sollten herausfinden, was ihnen gut tut. Eine Kombination aus Autogenem Training und PME kann sinnvoll sein und beide Welten optimal vereinen.

Tipps aus der Praxis

Meine inzwischen langjährige Erfahrung mit Kursteilnehmern und Patienten hat gezeigt, dass auch in der Muskelentspannung das Motto „Übung macht den Meister“ zum Tragen kommt. Aus diesem Grund seien hier einige Tipps angeführt, die das Üben erleichtern:

• Gestalten Sie eine Einleitungsphase, in der Sie sich bewusst Zeit für sich nehmen und z.B. einen „Bodyscan“ durchführen. Dabei spüren Sie wertungsfrei in die verschiedenen Körperbereiche hinein und zentrieren sich für die folgende Übungsphase. Gerne können Sie auch Atemübungen oder die Vorstellung eines Entspannungsortes einbauen.

• Schließen Sie Ihre Trainingsphase bewusst ab. Möglicherweise mögen Sie zwei- bis dreimal tief ein- und ausatmen, den Unterschied zu vorher spüren in den Muskeln und sich dann kräftig strecken, bevor Sie wieder die Augen öffnen.

• Bei der Anspannung ist es wichtig, v.a. zu Beginn, dass Sie die Intensität nicht zu hoch ansetzen. Anfangs neigt man dazu, einen möglichst hohen Druck aufzubauen, um ausreichend Spannung zu spüren. Dies ist jedoch eher kontraproduktiv und verursacht nach dem Training unnötigen Muskelkater. Meine Empfehlung lautet: Stellen Sie sich beim Spannen eine Skala von 0 bis 100% vor, und testen Sie, wie viel Druck in etwa 50% entspricht. Stellen Sie fest, dass noch mehr möglich ist, so können Sie die Intensität steigern. Wenn Sie sich danach richten, können Sie gut regulieren und die für Sie passende Spannung herausfinden.

• Bedenken Sie, dass jeder Muskel eine andere Intensität verträgt. Gerade schmerzende Bereiche sollten Sie sehr behutsam trainieren.

• Verursacht eine Übung Schmerzen, dann ist diese für Ihren Körper möglicherweise nicht geeignet oder im momentanen Zustand zu belastend. Führen Sie dann eine andere Übung durch. Auch bei Einschränkungen, z.B. Arthrose, Lähmungen oder Operationswunden, sind bestimmte Übungen zu meiden.

• Nehmen Sie sich für die Muskelentspannung ausreichend Zeit und wiederholen Sie jede Übung, bevor Sie zur nächsten übergehen.

Übung für sitzende Berufe

Mache es dir in einer angenehmen Position gemütlich und schließe deine Augen. Nimm 2-3 tiefe Atemzüge und lasse deinen Alltag hinter dir. Während du sitzt, spürst du Wirbel für Wirbel deinen Rücken hinunter und nimmst deine Haltung wahr. Wie fühlst du dich? Spüre deine Lendenwirbelsäule, die Position deines Gesäßes und deine Füße am Boden. Drücke diese nun fest gegen den Untergrund und fühle die Spannung in deinen Oberschenkeln. Halte und beobachte diese 5-10 Sekunden, bevor du sie loslässt. Erlebe nun den Unterschied zu vorher in deinen Muskeln und lasse Entspannung einkehren. Die Muskulatur wird immer lockerer, weicher und flexibler. Dehne dieses Gefühl mit jedem Atemzug weiter aus über deine Hüften und nach oben über den Rücken. Genieße es eine Weile.

Wiederhole die Übung und schließe mit folgender Sequenz ab: Konzentriere dich auf dein Gesäß und spanne es gut an. Nach 5-10 Sekunden lässt du los und beginnst mit einer ausführlichen Entspannungsphase. Wiederhole auch diesen Vorgang. Strecke dich anschließend und öffne deine Augen.

Fazit

Die Progressive Muskelentspannung zählt nicht umsonst zu den beliebtesten und bekanntesten Methoden, wenn es um ganzheitliches Wohlbefinden geht. Sie besticht durch ihre einfache und zielgerichtete Durchführungsweise, die anhand des beschriebenen Grundschemas ideal erlebt werden kann. Abseits der bekannten Übungen nach Dr. Jacobson kann man nach diesem Prinzip jede Dehnung, die im Rahmen des Sporttrainings durchgeführt wird, zur Muskelentspannung umwandeln und so Verhärtungen oder Schmerzen vermeiden. Auch im Praxiskontext kann Patienten diese Entspannungsmethode vermittelt werden, um ihnen mehr Selbstwirksamkeit für ihr Leben an die Hand zu geben. Die PME ist durchaus als Lebensschule zu verstehen, die uns nicht nur für Kraftaufwand und Haltung sensibilisieren, sondern auch das Körperbewusstsein schulen möchte. Erkennen wir den Zusammenhang zwischen Muskelspannung und ihrer psychisch/geistigen Bedeutsamkeit, so kann es gelingen, die Muskulatur zur Drehscheibe für nachhaltige Gesundheit werden zu lassen.

Literatur

  • Jacobson, Edmund: Entspannung als Therapie – Progressive Relaxation in Theorie und Praxis. Klett-Cotta Verlag, 2011
  • Kalbheim, Eva: So leicht geht Progressive Muskelentspannung für Dummies. Wiley Verlag, 2016
  • Hoffmann, Eberhart: Progressive Muskelentspannung – Ein Trainingsprogramm. Hogrefe Verlag, 2020

Philipp Feichtinger
Heilpraktiker, Hypnosetherapeut und Organetiker mit Praxis in Riedau/Österreich, Autor, Dozent an den Paracelsus Schulen
office@nhp-feichtinger.at

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