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aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 6/2022

Multimodale Therapie gegen Schmerzen

Cover

Rücken- und Nackenschmerzen sind Probleme, die fast jeder kennt. Allein im Jahr 2021 waren Rückenleiden und andere Muskel-Skelett-Erkrankungen laut DAK-Report mit 19,8% der häufigste Grund für krankheitsbedingte Fehltage. Diese Beschwerden sorgen dabei nicht nur für eine Minderung der Lebensqualität der Betroffenen, sondern ebenso für einen enormen volkswirtschaftlichen Schaden, gehören sie doch auch zu den häufigsten Ursachen für längerfristige Arbeitsunfähigkeit und Frühberentung.

Rückenschmerzen können verschiedenste Ursachen haben, was Diagnostik und Therapie oftmals sehr komplex macht. Meist werden sie ausgelöst durch Fehlbelastungen oder Gewebeschädigungen. Erkrankungen von Knochen, Gelenken, Muskeln oder Nerven spielen eine Rolle. Liegt dem Schmerz eine definierbare Ursache zugrunde, spricht man von spezifischen Rückenschmerzen. Als unspezifisch werden jene bezeichnet, bei denen es keine eindeutigen Hinweise auf eine Ursache gibt. Dabei kann ein komplexes Zusammenspiel aus psychischen, sozialen und biophysikalischen Faktoren verantwortlich sein. Sie machen den Großteil (85-90%) aller Rückenschmerzen aus.

Diagnostik

Die Krankengeschichte eines Patienten, die Anamnese, ist eines der wichtigsten diagnostischen Mittel, um die mögliche Ursache der Rückenschmerzen herauszufinden. Neben den klassischen Fragen, wodurch, wann und wie die Schmerzen entstanden sind, ist v.a. das Screening auf „red flags“ von Bedeutung, um ernsthafte Erkrankungen als Auslöser der Probleme auszuschließen. Beispiele hierfür wären Schmerzen der Wirbelknochen bei Perkussion oder Erschütterung, sensomotorische Defizite, gesteigerte oder pathologische Reflexe, Gefühlsstörungen in der Gesäßgegend oder eine Blasen-Mastdarm-Inkontinenz. Ebenso können mögliche psychologische Komorbiditäten erfragt werden.

Die Bildgebung sollte nach den aktuellen wissenschaftlichen Leitlinien nur eine nachgelagerte Priorität besitzen. Daher wird diese bei unspezifischem, akutem Rückenschmerz in den ersten 4-6 Wochen mittlerweile als nicht notwendig erachtet.

Studien konnten zeigen, dass es hinsichtlich der Funktionsfähigkeit nach einem Jahr keinen wesentlichen Unterschied zwischen einer frühen und einer späten Bildgebung gibt. Die hohe Prävalenz von Befunden, wie z.B. Bandscheibenschäden oder degenerativen Veränderungen, begünstigen sogar die Chronifizierung von Schmerzen.

Ebenso weisen Studien darauf hin, dass Schmerz und strukturelle Schäden nur mäßig miteinander korrelieren. Bei nahezu jedem Erwachsenen finden sich Bandscheibenschäden, Verschleißerkrankungen oder andere Auffälligkeiten, ohne dass diese zwingend Probleme verursachen würden. Einer der wesentlichen Faktoren, der die Schmerzstärke maßgeblich beeinflusst, liegt in der Katastrophisierungstendenz des Patienten selbst.

Therapie

Bei der Behandlung von Rückenschmerzen ist allen voran die Frage entscheidend, um welche Art von Rückenschmerz es sich handelt. Spezifische, strukturelle Problematiken müssen anders behandelt werden als unspezifische. Chronische Schmerzen erfordern eine andere Herangehensweise als akute.

Behandlungsmethoden für Rückenschmerzen gibt es unzählige, viele davon mit zweifelhaften Erfolgsversprechungen. Wissenschaftlich evident ist ein multimodales Therapiekonzept aus den Bausteinen:

  • Patientenedukation und Selbstmanagement
  • Trainingstherapie
  • Manualtherapeutische und osteopathische Maßnahmen
  • Ernährungs- und Lebensstilberatung

Patientenedukation

Durch den zunehmenden Wissensgewinn im Bereich der Schmerzphysiologie spielt die Patientenedukation bei der Behandlung von Rückenleiden eine zentrale Rolle und ist mittlerweile fest in diversen Therapierichtlinien verankert. Die Aufklärung von Patienten kann sich hierbei an unterschiedlichsten Gesichtspunkten orientieren: Bei einer (patho-)anatomischen Aufklärung stehen die körperlichen Gegebenheiten und die potenziellen „krankhaften“ Abweichungen im Vordergrund. Als Beispiel sei hier der Bandscheibenvorfall mit seinen Folgen genannt.

Diverse Studien konnten allerdings zeigen, dass eine rein (patho-)anatomische Aufklärung keinen Einfluss auf die Entstehung und Behandlung von Rückenschmerzen hat. Sie scheint sogar die Angst und die Sorgen vor einer möglichen Chronifizierung zu verstärken. Entscheidender bei einer zielgerichteten Edukation ist v.a. die Informationsvermittlung über den natürlichen Verlauf von Rückenschmerzen und der daraus folgenden Prognose, die Vermittlung von neurophysiologischen Prozessen bei der Schmerzentwicklung und -wahrnehmung sowie der Einfluss von psychosozialen Aspekten, wie z.B. Stress oder Angst.

Ziel und Leitlinien der Aufklärung

Ziel einer wirksamen Patientenedukation bei unspezifischen Rückenschmerzen sollte immer die individuelle Steigerung der Selbstwirksamkeit der Betroffenen darstellen. Entscheidende Informationen bzw. Lerninhalte sind:

  • Schmerz ist normal, individuell und immer real
  • Schmerz ist immer eine Interpretation des Gehirns
  • Schmerz und strukturelle Schäden korrelieren nur mäßig
  • Bewegung ist nicht schädlich, sondern kann helfen, Schmerzen zu lindern

Zusammenfassend lässt sich für Schmerz festlegen, dass dieser immer von der inneren Balance zwischen Gefahr und Sicherheit und somit stark von der Einstellung eines Patienten zu seinem Schmerz abhängt.

Trainingstherapie

Die positive Wirkung von Training ist vielfach untersucht. Zugrundeliegende Mechanismen sind v.a. die Verbesserung der Beweglichkeit und Steigerung der Muskelkraft, eine Reduktion proentzündlicher Zytokine mit gleichzeitiger Stärkung des Immunsystems, die Beeinflussung des mentalen Status sowie eine reduzierte Sensibilität für gesundheitsschädliche Reize und Stimuli.

Aktivitäten wie z.B. Pilates, Stabilisationstraining, Yoga, Krafttraining, Graded Activity und aerobes Ausdauertraining scheinen gemäß aktuellem Stand der Wissenschaft die Reduktion von Schmerzen und Funktionseinschränkungen sowie die Steigerung des Wohlbefindens zu begünstigen. Unklar ist dabei jedoch, ob eine konkrete Belastungsform der anderen überlegen ist. Viel entscheidender ist daher, dass Betroffene Freude an Bewegung entwickeln. Hat ein Patient Spaß bei bestimmten Aktivitäten, ist dieser Aspekt viel wesentlicher als „die richtige“ Sportart. Daher stehen bei der Frage nach der geeigneten Belastungsform eher Faktoren wie Vorlieben des Patienten, finanzielle Möglichkeiten oder zusätzliche einschränkende Komorbiditäten im Vordergrund.

Auch zur Frage der Trainingshäufigkeit und des Belastungsumfangs der Bewegung herrscht kein klarer Konsens. Dementsprechend sollte sich beides an den Möglichkeiten des Patienten orientieren, sodass keine Überforderung entsteht. Die meisten Studien empfehlen als grobes Ziel wöchentlich zwei Trainingseinheiten à 45 Minuten über mehrere Wochen.

Schmerz als schützender Faktor

Hinsichtlich der Intensität profitieren Patienten am meisten von einem angemessenen Trainingsstimulus, der weder zu hoch noch zu niedrig ist. Es wird empfohlen, die Einstiegsintensität im Sinne einer Trainingsprogression zunächst niedrig zu wählen und diese im Trainingsverlauf stufenweise anzupassen. Auch in der Trainingstherapie spielt begleitende Aufklärung eine wichtige Rolle. Die Wahrnehmung des Schmerzes als schützender Faktor anstelle eines Schadenssignals führt automatisch zu einem gesteigerten, angstfreieren Aktivitätsniveau und mehr Bewegungsvertrauen. Schmerzen während einer Übung müssen daher kein Abbruchkriterium sein, sondern können helfen, chronische Schmerzen zu verbessern.

Vertrauen in den eigenen Körper und die körperlichen Strukturen zu schaffen, ist ein wesentliches Ziel der Trainingstherapie. Die Normalisierung der Alltagsaktivität, der Abbau von Bewegungsangst und schrittweise Belastungssteigerungen erhöhen die Selbstwirksamkeit der Betroffenen. Eine begleitende Betreuung mit Verlaufskontrolle durch einen Therapeuten sorgen für mehr Therapietreue, Sicherheit und Motivation.

Manuelle Therapien und Osteopathie

Neben den biopsychosozialen Aspekten bei der Entstehung von Rückenschmerz spielen auch strukturelle oder funktionelle Störungen bei akuten Problemen eine wichtige Rolle. Hier kommen der Manualtherapie und der Osteopathie zentrale Funktionen zu. Gelenkblockaden, verspannte und verkürzte Muskeln oder Faszien, sie alle können über bestimmte Prozesse Nozizeptoren reizen und zur Schmerzentstehung beitragen. Auch afferente Signale bei viszeralen Dysfunktionen können über viszerosomatische Reflexwege Rücken- oder Nackenschmerzen entstehen lassen. Ein klassisches Beispiel hierfür ist die Reizung des Nervus phrenicus mit anschließenden Nackenschmerzen durch eine Laparoskopie.

Unterschiedliche Mobilisations- und Dehntechniken sorgen für eine bessere Zirkulation und Trophik im Gewebe, eine Optimierung der Gelenkmobilität sowie einen veränderten Muskeltonus. Spezielle Manipulationstechniken können Schmerzen über die Reizung bestimmter Mechanorezeptoren unmittelbar positiv beeinflussen. In Studien konnte bei diesen Maßnahmen eine effektive und v.a. schnelle Beeinflussung von Rückenschmerzen nachgewiesen werden. Auch hier vergrößerte sich der Effekt hinsichtlich der Nachhaltigkeit durch die Kombination mit Edukations- und Trainingsinterventionen.

Schmerz und Lebensstilfaktoren

Chronische Rückenschmerzen können durch diverse Lebensstilfaktoren, die diese fördern und aufrechterhalten, maßgeblich beeinflusst werden. Verschiedene Studien konnten zeigen, dass neben Bewegungsmangel v.a. Ernährung, Schlaf und Stress negativ mit Schmerzen verknüpft sind.

Bei der Ernährung gilt der Konsum von stark verarbeiteten, zuckerhaltigen und anderen nährstoffarmen Lebensmitteln als problematisch. Fehlende Vitamine, Mineralien und andere Substanzen können dafür sorgen, dass entzündliche Prozesse ausgelöst oder verstärkt werden, sodass sich dadurch Schmerzen verschlimmern und chronifizieren. Hier ist v.a. ein ungünstiges Verhältnis von Omega-6- zu Omega-3-Fettsäuren und deren Einfluss auf
Entzündungsmediatoren (Prostaglandine) zu nennen.

Einseitige Ernährung mit wenig pflanzlicher Kost und hohem Anteil an industriell verarbeiteten Lebensmitteln sorgt neben weiteren Faktoren für eine Fehlbesiedlung im Darm. Eine so entstandene proentzündliche Darmflora gilt als zentraler Mechanismus bei der Entstehung von Bandscheibenverschleiß und Rückenschmerzen. Bakterien können durch eine nicht intakte Darmbarriere in das Bandscheibengewebe einwandern und dort eine entzündliche Immunreaktion stimulieren, wodurch es im weiteren Verlauf zur Produktion weiterer proentzündlicher Metaboliten und Zytokinen des Immunsystems kommt.

Bedeutende Ernährungsfaktoren

Um Entzündungsvorgängen vorzubeugen, sollte stets auf eine ausreichende Zufuhr von EPA- und DHA-reichen Omega-3-Fettsäuren geachtet werden sowie auf eine verringerte Zufuhr von Omega-6-Fettsäuren (Linol- oder Arachidonsäure). Gute Fettquellen sind hochwertige Olivenöle, Kokosfett, Butter oder Ghee, Avocados, Nüsse und Fisch. Fleisch, das keine Bio-Qualität aufweist, hat einen hohen Anteil an Omega-6-Fettsäuren, weswegen ein verringerter Verzehr empfehlenswert ist und pflanzliche Lebensmittel verstärkt konsumiert werden sollten.

Das Motto „Iss einen Regenbogen!“ kann auch beim Thema Schmerz als Empfehlung gelten. Farbenfrohe Früchte, Gemüse und andere pflanzliche Lebensmittel verfügen über zahlreiche natürliche und entzündungshemmende Inhaltsstoffe, z.B. Polyphenole oder Flavonoide. Für ein gut funktionierendes, möglichst divers aufgestelltes Mikrobiom sollten v.a. präbiotische, ballaststoffreiche Lebensmittel auf dem Speiseplan stehen, daneben auch Probiotika, z.B. aus fermentierten Lebensmitteln. Schließlich kann eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr bei Schmerzen hilfreich sein. Sie kann deshalb zu reduzierten Gelenkschmerzen wie auch zur Verringerung von Entzündungen führen, da gesunde Gelenke ca. 80% Wasser beinhalten.

Regulierung des Körpergewichts

Ein weiterer wesentlicher Baustein des ganzheitlichen Schmerzmanagements ist eine Normalisierung des Körpergewichts. Überschüssiges Fettgewebe ist nicht nur ein ästhetisches Problem, sondern auch ein Risiko für die Gesundheit. Das Fettgewebe im Bauchansatz produziert bestimmte Mediatoren und Hormone, die zu einer niedriggradigen Entzündung bedingt können. Diese als Metaflammation benannte, stoffwechselbedingte Entzündung bedingt nicht nur Erkrankungen wie Diabetes oder Herzinfarkt, sondern kann auch Auslöser von chronischen Rückenschmerzen sein.

Schlaf

Erholsamer Schlaf ist auch beim Thema Rückenschmerz essenziell für unsere Gesundheit und geht weit über das Thema „gute oder schlechte Matratze“ hinaus. Erschreckenderweise klagt heutzutage eine von vier Personen über Schlafstörungen, die dazu führen können, dass wichtige Regenerationsvorgänge im Körper nicht mehr oder deutlich schlechter ablaufen. Schlaf sorgt generell für zahlreiche Aufräum- und Erholungsvorgänge. So kommt es in der Nacht zur körperlichen Regeneration durch die Ausschüttung von Wachstumshormonen, der Stärkung des Immunsystems sowie der Neutralisation von oxidativem Stress. Die Verringerung der Cortisol- und Adrenalinspiegel sowie das Ansteigen der Melatoninkonzentration sorgen für eine Hemmung von entzündlichen Vorgängen im Körper, schließlich ist Melatonin eines unserer stärksten Antioxidantien.

In Bezug auf Schmerz hat sich gezeigt, dass Schlafstörungen die Entstehung von Hypersensitivität und Hyperalgesie begünstigen. Der konkrete Wirkmechanismus ist allerdings noch nicht abschließend untersucht. Mögliche Ursachen sind entzündungsfördernde Prozesse, die verstärkte Bildung schmerzstimulierender Zytokine, eine geringere Dopaminaktivität, eine verminderte Verfügbarkeit von Opioid-Rezeptoren und ein veränderter Melatoninspiegel. Darüber hinaus kann Schlafmangel Katastrophisierungsgedanken verstärken, was direkten Einfluss auf die wahrgenommene Schmerzstärke hat.

So empfiehlt es sich, bei Schmerzen auf eine gute Schlafhygiene zu achten. Das bedeutet: mindestens 4-6 Stunden vor dem Schlafengehen keinen Kaffee oder Alkohol zu trinken, ebenso sollte Nikotinkonsum vermieden werden. Auf üppige Mahlzeiten vor dem Zubettgehen sollte verzichtet, aktive Bildschirmzeit ab 1,5 Stunden vor dem Schlafen vermieden werden, da blaues Licht die Melatoninproduktion hemmt. Außerdem gilt es, auf ein ruhiges, kühles (18°C) und dunkles Schlafzimmer zu achten.

Fazit

Aufgrund der Komplexität bei der Entstehung und Chronifizierung von Rückenschmerzen empfiehlt sich für die Therapie eine ganzheitliche Herangehensweise nach dem biopsycho-sozialen Modell. Selbstverständlich sind nicht bei jedem Betroffenen alle Faktoren gleichermaßen relevant, daher ist anfänglich ein ausführliches Screening durch den Therapeuten für die Wahl geeigneter Interventionen entscheidend. Dennoch sollte sowohl bei akut entstandenen Schmerzen als auch bei chronifizierten Problemen der bio-psycho-soziale Aspekt nie außer Acht gelassen werden.

Literatur kann bei der Redaktion angefragt werden.

Malte Herberhold
(Sport-)Physiotherapeut, Heilpraktiker, Osteopath mit Spezialisierung in integrativosteopathischer Diagnostik und Therapie (Dr. Kia), Fachberater für Ernährungsmedizin, Referent für rückengerechte Verhältnisprävention (AGR)
moin@growing-health.de

Foto: © drubig-photo I adobe.stock.com

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