aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 3/2009
Seelenplätze
Theresia de Jong zeigt, wie und warum der Mensch in unterschiedlichen Landschaften Energie und Heilung finden kann.
Die entstressende Wirkung von Naturlandschaften ist in zahlreichen Studien belegt. Bei Kindern steigt die Aufmerksamkeitsspanne signifikant, wenn sie genügend Zeit in der Natur verbringen. Andere Forschungsergebnisse belegen, dass der Aufenthalt in der Natur kreatives Spiel und soziale Fähigkeiten fördert, sogar ADHS-Symptome lindert. Zusammengefasst kann gesagt werden: Mutter Natur belebt und entspannt zugleich, sie hat tiefgehende regenerative Fähigkeiten.
Bestseller-Autor Richard Louv spricht von einer „Nature-Deficit-Disorder“, die offenbar immer mehr Kinder trifft, weil in Städten keine natürlichen Regenerationsräume mehr zum freien Spiel einladen und Kinder sich mehr und mehr nur noch in geschlossenen Räumen aufhalten – vorzugsweise vor Bildschirmen. Auswirkungen sind eine reduzierte Sinneswahrnehmung, verringerte Aufmerksamkeitsspannen und eine erhöhte Zahl von physischen und emotionalen Erkrankungen. Louvs These lautet: „Je mehr sich Menschen in naturfremden Umgebungen aufhalten, umso dringlicher benötigen sie den Ausgleich in der Natur, um geistig, emotional und körperlich gesund zu bleiben.“
Für den Berliner Biologen und Philosophen Andreas Weber gehören Natur und Mensch zusammen, als Spiegel verbunden in einem Empfindungsfeld: In der Schönheit der Natur können Menschen auch das Schöne in sich selbst entdecken. Je weiter sich Menschen von der Natur entfernen, umso mehr entfremden sie sich damit selbst. „Wir sollten Natur nicht nur bewahren, weil sie uns nützt oder weil sie schon vor uns da war, sondern weil wir sie lieben, weil wir ein Teil von ihr sind, v.a. aber, weil sie ein Teil von uns ist.“ Ohne das Erleben der Natur drohe der Mensch seelisch zu verkümmern. „Vielleicht besteht die wichtigste psychische Funktion anderer Organismen darin, dass sie uns Menschen mit unserem Schmerz, unserer Vereinzelung, unserer Vergänglichkeit versöhnen, denn grundlegendes Kennzeichen der Natur ist, dass sie immer wieder auflebt, dass auch die größte Katastrophe sich nach kurzer Zeit wieder in Blüte verwandelt.“
Die Beobachtung, dass natürliche Landschaftsräume therapeutisch wertvoll sind, ist nicht neu. Schon vor 2000 Jahren schufen chinesische Tao-Philosophen kunstvoll angelegte Gärten mit dem Ziel, Gesundheit positiv zu beeinflussen. Auch die alten Griechen beschäftigten sich mit Lands chafts kräften. Sie unterschieden zwischen „Topos“ (= physikalische Aspekte einer Landschaft) und „Chora“ (= geheimnisvolle Ortseigenschaft, die uns unserer Spiritualität nahe bringen kann).
Weber macht darauf aufmerksam, dass wir die Nahrung für unser Denken aus der Welt des Natürlichen beziehen. So verwandeln wir Pflanzen, Tiere, auch Landschaften und ihre vielfältigen Formen zu Sinnbildern, in denen wir uns selbst erkennen können. Es gibt Felsformationen, die aussehen wie Gesichter oder Tiergestalten; Bäume, in deren Rinde oder Wuchs wir Augen oder Märchenwesen erkennen. Dieses Phänomen wird auch „Simulakrum“ genannt. „Simulakra sind Nebenprodukte einer tiefen Selbstrefexion der Natur, und viele alte Völker sahen darin ihre Götter. Auch wir können diese Götter erkennen: Mit einem entspannten, aufmerksamen Blick, als würden wir mit uralten Augen sehen“, meint der englische Archäologe Paul Devereux.
Landschaft wird sicherlich individuell empfunden und interpretiert, doch gibt es offenbar archetypische Deutungsmuster, die von universeller Natur sind. Berge, Wasser, Ebenen, Wald und Steppe befördern Gefühlsregungen, die von vielen Menschen übereinstimmend wahrgenommen werden. Nach einer Studie schätzen die meisten Europäer, Amerikaner und Asiaten schöne Aussichten, Gewässer, offenen Bewuchs, Abwechslungsreichtum, Stille und frische Luft. Der Natursoziologe Rainer Brämer (Uni Marburg) zählt die deutschen Mittelgebirgslandschaften „objektiv zu den schönsten Landschaften der Welt“, denn sie vereinen vieles, was Menschen sich landschaftlich wünschen: eine gezähmte, nicht zu wilde Natur, wechselnde Ausblicke, Wege und Pfade, die in Windungen am Horizont ver schwinden, Übergangszonen von Wald und Feld, sanft geschwungene Hügelketten. Aber Landschaften wirken auch spezifisch.
Berglandschaften
Auf Bergen leben Luftgeister, das war für Menschen in vergangenen Kulturen klar. Daher errichteten sie ihre Heiligtümer häufig auf Bergkuppen oder auf Hügeln. Besondere Felsformationen wurden und werden bei Ritualen aufgesucht, die Verbindung von Gipfel und Himmel ist durch Gipfelkreuze sichtbar. Die Tewa-Indianer glaubten, dass auf den Gipfeln ihrer heiligen Berge ein Erdnabel existiert.
„In den Bergen liegen die Gegensätze, die das Menschsein bestimmen, am engsten zusammen: Leben und Tod, Angst und Hoffnung, Glück und Verzweiflung, Bewegung und Stillstand. Grauzonen gibt es nicht. Die Klarheit dieser strengen Regeln schärft Sinne und Verstand“, meint Extrembergsteiger Thomas Bubendorfer. Berge stehen für die Geisteskraft, hoch oben auf einem Gipfel fühlt man sich beflügelt, leicht, über den Dingen stehend. Es ist der im wörtlichen Sinn tatsächliche Überblick – auf einigen Bergen sogar Rundumblick – der Perspektiven verändern und eine neue Sicht auf alles hervorrufen kann.
Ebenen
Auch Ebenen begünstigen den Weitblick, haben aber eine andere Ausstrahlung als Berggipfel. Die Ebene ist unmittelbar mit der Erde verbunden. Strebt die Energie auf Bergen himmelwärts, so ist sie in der Ebene nach unten gerichtet. Ebenen geben Bodenhaftung. Es ist das Gleichförmige, Ewigliche, Geduld und Langmut, das Ebenen ausstrahlen.
Mutter Erde beschert Ebenen oft einen besonders fruchtbaren Boden, was in der Frühzeit die Menschen zu schätzen wussten und Ebenen gezielt besiedelten. Bevorzugte Kultstätten waren die Gräber der Toten. Die Häufigkeit von Hünengräbern ist gerade im Norden Deutschlands besonders hoch. Der Schoß der großen Mutter hat nicht nur Leben gespendet, sie nimmt es auch nach dem Erdenleben wieder in sich auf. Hügelgräber sind als Symbol Tore in die Unendlichkeit, Ewigkeit, aber gleichzeitig Tore zu unseren inneren verborgenen Kräften.
In Ebenen treffen an einigen Orten auch Wasser und Erde zusammen. Moore sind Traumlandschaften, denn es ist nie sicher, wo Erde und wo Wasser ist. Die Grenzen sind fließend, nicht klar. Es ist im Gegensatz zum „entweder – oder“ der klaren Entscheidung der Berge eine „sowohl als auch“ Landschaft. Toleranz wäre eine Eigenschaft, die in moorigen Landschaften erlernt werden könnte. Besonders wenn Nebelschwaden wabern, sind Moore geheimnisvoll und laden ein, in die Tiefen der eigenen Seele hinab zu tauchen. In diesen Momenten kann nur das ganz Nahe wahrgenommen werden, alles andere ist Spekulation und unsicher. Es ist eine Einladung an den Menschen, sich mit sich selbst, seinen eigenen inneren Schätzen zu beschäftigen und nicht ständig hinaus in die Ferne zu schweifen.
Wasserlandschaften
Wasser ist das weibliche Element schlechthin. Es ist weich und passt sich an, und doch ist es in seiner Wirkung kaum zu überbieten. Wasser findet Wege, die nicht ohne weiteres sichtbar sind. Wasser und Gefühl gehören untrennbar zusammen. Zu Beginn der Schöpfung kamen wir aus dem Wasser. Als Kind, das zur Welt kommt, waren wir neun Monate vom Fruchtwasser umgeben. Wasser ist der Ort, an dem Leben beginnt. Wasser ist reinigend – sowohl äußerlich, als auch innerlich. Wässer von guten Quellen wirken heilend auf den unterschiedlichsten Ebenen. Nur einfach ruhig am Wasser zu sitzen und seinen Geist und seine Seele ganz ins Wasser eintauchen zu lassen, ist einer Meditation vergleichbar.
Im Wasser leben die Wassergeister. Die Mütter zahlreicher Götter des Altertums waren Nymphen, die aus dem Meer geboren wurde. Wasser und Liebe stehen in engem Zusammenhang. Bei beiden geht es um Hingabefähigkeit, Geschehenlassen, Empfangen, aber auch um Leidenschaft und Wildheit. Mit jeder Liebe erneuert sich das Leben, ebenso wie Wasser die Kraft zur Regeneration besitzt. In der Psychoanalyse ist Wasser das Symbol der menschlichen Seele.
Bäche und Flüsse
Vitaladern der Erde versorgen ganze Landstriche mit der notwendigen Lebenskraft. Der US-Geograph James De Meo führt den Übergang vom Matriarchat zum Patriarchat darauf zurück, dass sich infolge eines Klimawandels ein Wüstengürtel um die Erde legte. Ohne die Stärkung der Leben spendenden Qualitäten durch das Wasser verkümmerten diese im Leben der Menschen und machten Raum für ein Weltbild, in dem der Kampf ums Überleben an vorderster Front steht. Zeitgleich etablierten sich in der Wüstengegend des nahen Ostens Religionen, die einen einzigen, männlichen und oft strafenden Gott anbeten.
Flüsse bringen selbst in hektischen Großstädten einen Hauch von Unberührtheit und Ruhe. Gerade für Großstadtmenschen können Flussufer Orte der Selbstbegegnung sein. Nicht umsonst haben Cafés und Biergärten, die an Flüssen oder auch Seen liegen, großen Zulauf. Dazusitzen, den Wellen des Wassers nachzuspüren, das ist selbst für hart gesottene Geschäftsleute wie ein Gruß aus der Welt der Seele.
Das Meer
Über 2/3 der Erdoberfläche besteht aus Ozeanen und Meeren – so wie auch unser Körper zu 2/3 aus Flüssigkeit besteht. Das Leben auf der Erde kam aus dem Meer, ein möglicher Grund, weshalb es jährlich Hunderte Millionen Menschen in den Ferien an Strände zieht. Dort ist Regeneration möglich. Aufgetankt mit frischer, ursprünglicher Energie kann dann das Leben ein weiteres Jahr weitergehen. Aber das Meer zeigt uns auch, wie stark die Erde von kosmischen Kräften berührt wird. Die Mondkraft erinnert an das ständige Werden und Vergehen. Es ist eine Erinnerung oder auch Zeichen des zyklischen Zeitrades. Auch wir Menschen sind in diesen Zyklus eingebunden, besonders natürlich die Frau mit der monatlichen Blutung – auch diese eng verknüpft mit dem Mondlauf.
Interessant ist auch, dass der Mond die Erde anzieht. Die an sich recht dünne Erdkruste hebt und senkt sich im Rhythmus der Mondnähe. Das Meer kann ruhig und einladend sein, die Wellen können sanft am Strand auslaufen, aber es gibt auch wilde, stürmische Tage, wo das Wasser wüst an den Küsten nagt und Teile des Festlandes überflutet. Das zerstörende Element ist Teil des Meeres. Es nimmt und verändert ohne Unterlass. Aber auch das ist Teil des Lebens. Ohne das Ende des Alten kann Neues nicht entstehen. Diese Phasen der gewaltsamen Veränderung gehen mit Schmerzen einher, so wie jede Geburt mit Schmerz verbunden ist. Aus diesem Grund symbolisiert das Meer auch immer wieder Geburt und Neuanfang.
Wälder
Der Wald war den alten Germanen heilig. Er war Stätte der Götter, wichtige Rituale wurden in den heiligen Hainen abgehalten. Im Wald werden wir uns bewusst, wie sehr wir selbst mit der Natur (= mit dem Göttlichen) verbunden sind. Nach einem Wald-Spaziergang ist unsere Seele ausgelüftet, Alltagssorgen haben sich „verflogen“. Es ist uns vielleicht bewusst geworden, wie unwichtig sie angesichts der Ewigkeit eigentlich waren und sind.
Geduld ist eine der Eigenschaften, die der bewusste Aufenthalt in Wäldern fördern kann. Die Weltenbäume erzählen uns von Standfestigkeit und der Fähigkeit in Ruhe abzuwarten, wie die Winde wehen. Sie zeigen auch, uns nicht von jedem Wind umblasen zu lassen, sondern in Flexibilität den Kräften nachzugeben ohne zu brechen. Und so ist der Wald ein geeigneter Ort für Visionssuche, denn hier ist die Ursprünglichkeit der Natur noch anzutreffen. Wenn wir unsere Hände auf die Rinde eines alten, weisen Baumes legen, ruhen sie auf den Säulen der Zeit. „Wenn Sie 100 Jahre lang an dieser Stelle verharren und aufmerksam lauschen würden, könnten Sie hören, wie eine einzige Silbe der langen Unterhaltung mit Gott vollständig ausgesprochen wird. Dort zu verweilen macht Sie demütig und verhilft Ihnen zu Geduld mit Ihrem eigenen Leben“, meint US-Psychotherapeut Chris Hoffmann.
Nicht umsonst wird der Baum als „Achse des Universums“ oder „Himmelsäule“ betrachtet. Fast alle Hochkulturen haben den Baum als Verbindungsachse zwischen Himmel und Erde geehrt. Je weiter wir auf der Achse nach oben steigen, desto weiter wird unser Blick und umso näher kommen wir göttlichen Einsichten. Ab einem bestimmten Punkt der Entwicklung tragen dann auch Menschen genau wie Bäume Früchte, mit denen sie ihre Umgebung nähren und erfreuen können.
Literatur
Theresia de Jong, Seelenplätze – Kraft schöpfen an heilenden Orten, Allegria Verlag, Berlin 2009.
Theresia de Jong
Kontakt: http://www.theresia-dejong.de