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Psychotherapie
Lesezeit: 4 Minuten

Fallstudie aus der psychotherapeutischen Praxis

Identifikationsprobleme

Mein 51-jähriger Patient, geschiedener Bauingenieur, klagt über Schwierigkeiten in der Partnerschaft, innere Anspannung, Schlafstörungen, eine depressive Grundstimmung und übermäßigen Alkoholkonsum. 

 

 

ANAMNESE

Als Einzelkind bekam er nur wenig Aufmerksamkeit und Zuwendung von seiner Mutter. Der Vater baute mit viel Fleiß eine Zimmerei auf. Seit seiner Kindheit musste er im elterlichen Betrieb mithelfen. Eine Ehe scheiterte nach wenigen Jahren. Nach der Trennung stürzte sich der Patient noch mehr in die Arbeit, bis er mit 48 Jahren einen Zusammenbruch (Burnout) erlitt. Nach kurzer Rückkehr in den elterlichen Betrieb wagte er einen beruflichen Neuanfang bei einem Bauunternehmen. Der Vater brach daraufhin den Kontakt zu ihm ab. Die Mutter blieb gleichgültig. Der Patient leidet unter der Reaktion seiner Eltern, fühlt sich schuldig, hat Angst vor finanziellem und sozialem Abstieg. Alkohol hilft ihm, seine Ängste zu kontrollieren und die Spannungen in seiner aktuellen Partnerschaft auszuhalten. 

 

 

AUFSTELLUNGSARBEIT UND ANSATZPUNKTE

Wir starten mit einer Aufstellung nach der Identitätsorientierten Psychotraumatherapie (Anliegen-Methode) nach Ruppert. Dabei werden für den Patienten Aspekte seiner Situation sichtbar, die ihm bis dahin nicht bewusst waren: 

  • Das Trauma der Mutter (Verlust von Heimat und sozialer Stellung, Todesangst durch Flucht nach dem Zweiten Weltkrieg) macht es ihr unmöglich, ihrem Sohn Liebe und eine sichere Bindung zu geben
  • Der Kampf des Patienten, durch Leistung und Anpassung die Liebe und Anerkennung der Eltern zu gewinnen
  • Unterdrückung von Gefühlen (Wut, Trauer, Ohnmacht)
  • Einsamkeit, auch in der Beziehung mit seiner Partnerin
  • Alkoholkonsum als Ersatz für Bindung und Beziehung

 

Aus den Ergebnissen der Aufstellung ergeben sich Ansatzpunkte für den weiteren Therapieverlauf: 

 

  • Loslösung von der Mutter/den Eltern
  • Stärkung des eigenen Ichs
  • Zugang zu blockierten Gefühlen finden und diese ausdrücken
  • Kontrolle des Alkoholkonsums
  • Klärung der Beziehung zur Partnerin

 

 

THERAPIE UND VERLAUF

Eine Woche nach der Aufstellung kommt der Patient zum Gespräch. Auch wenn die Erkenntnis bitter sei, habe er nun Gewissheit, dass er nicht „schuld“ an der Ablehnung durch die Mutter sei. Er kann akzeptieren, dass er die Liebe der Mutter auch im Erwachsenenalter nicht mehr bekommen wird. Ähnliches ergibt sich in Bezug auf den Vater. Seine Angst vor finanziellem und sozialem Abstieg ist vermutlich eine von den Eltern übernommene. Im Gespräch erarbeiten wir, dass er als Sohn nicht dafür verantwortlich ist, die Wünsche und Bedürfnisse seiner Eltern zu erfüllen. 

 

Damit die Loslösung von den Eltern auch auf der emotionalen Ebene möglich wird, arbeiten wir an der Stärkung des Ichs. Ich bitte ihn, bis zur nächsten Sitzung jeden Tag ca. 15 Minuten etwas zu der Frage „Wer bin ich?“ aufzuschreiben. Die Aufgabe wird von Termin zu Termin variiert und durch Malaufgaben erweitert. So fertigt der Patient z. B. während einer Sitzung mit geschlossenen Augen auf einem in Kopfhöhe an der Wand platzierten Blatt ein Selbstporträt an. Anhaltspunkte liefern ihm die mit der freien Hand ertasteten Gesichtszüge. Der Patient kommt dabei u. a. mit seiner verspannten Gesichtsmuskulatur in Berührung. 

 

Durch diese Maßnahmen bekommt er mehr Selbstvertrauen. Schrittweise kann er differenzierter über sich sprechen und seine Bedürfnisse artikulieren. Bei den Übungen zuhause stellt er fest, dass er beim Malen und Schreiben ganz bei sich ist und alles um sich herum vergessen kann. Auch den Alkohol. Je mehr der Patient das Gefühl „bei sich zu sein“ entdecken und genießen kann, desto deutlicher nimmt er wahr, dass er in der Partnerschaft eine Rolle spielt (der „Kümmerer“), die ihn überfordert. Bezüge zum Verhaltensmuster gegenüber den Eltern werden sichtbar. Um sich ganz auf seine Genesung konzentrieren zu können, trennt er sich – vorerst auf Zeit – von seiner Partnerin. 

 

 

AUSBLICK

Nach drei Monaten führen wir eine weitere Aufstellungsarbeit durch. Dieses Mal kommt er in Kontakt mit seinen Gefühlen: der Wut und Ohnmacht gegenüber seinen Eltern. Im Nachgang werden diese durch kunst- und schreibtherapeutische Aufgaben differenzierter zum Ausdruck gebracht. Die Depression ist derzeit remittiert. Der Patient hat mehr Selbstbewusstsein und etabliert klare Grenzen. Ängste, Spannungszustände und Schlafstörungen haben sich verringert. Sein Verlangen nach Alkohol hat spürbar abgenommen. Nach weiterer Stabilisierung strebt er eine Begegnung mit seinen Eltern an. Die Fortsetzung der Partnerschaft ist noch ungeklärt. 

 

 

FAZIT

Die Identitätsorientierte Psychotraumatherapie nach Ruppert ist eine Möglichkeit, Traumata und abgespaltene Persönlichkeitsanteile sichtbar zu machen. Kunst- und Schreibtherapie unterstützen auf sanfte Weise die Integration des Traumas und fördern die Identitätsentwicklung. 

Andrea Faulstich

Heilpraktikerin und Heilpraktikerin für Psychotherapie mit Schwerpunkten Missbrauch und Trauma in Familien und Beziehungen

faulstich.hp@protonmail.com

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