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aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 1/2019

Picky Eaters

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© Marko Novkov I fotolia.comWenn die Ernährung des Kindes zum Familienkonflikt wird

Samstagabend – Dorffest mit Live-Musik. Ungläubige Blicke erntet eine junge Mutter, die auf beinahe bizarr anmutende Weise ihrem 4-jährigen Sohn mit einem Stück Wurst hinterherläuft: „Los, Marvin, nur dieses kleine Stück noch! Maaarvin, bitte, nur noch das eine!“ Grotesk und beinahe erheiternd, wäre der Frau nicht die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben.

Ich komme mit ihr ins Gespräch. Der Sohn ist sehr dünn, war er schon immer. Wie sein Vater – nur ist dieser ein völlig normaler Esser. Schon als Marvin noch ein Baby war, sorgte sich die Mutter um ihn. Immer lag er unter der „magischen“ Kurve im Untersuchungsheft. Sie bemerkte die Blicke ihres Umfeldes, die ihr suggerierten, dass sie ihre Rolle als Versorgerin des Buben nicht gut ausfüllen würde. Um sie herum – in jedem Spielkreis, jeder Krabbelgruppe: Wonneproppen. Und nicht nur die Blicke unterstellten ihr dies, auch der Kinderarzt war argwöhnisch und ließ die junge Familie ins Krankenhaus überweisen, um sämtliche Erkrankungen auszuschließen, die für die Fragilität von Marvin ursächlich sein könnten.

Um es auf den Punkt zu bringen: Dem Jungen fehlt, medizinisch betrachtet, nichts. Er ist veranlagungsbedingt einfach etwas kleiner als seine Altersgenossen und ziemlich dünn. Doch bei all der Suche nach Lösungen zur Behebung des Untergewichts entstand ein völlig neues: Das Thema „Essen“ war zu einer riesengroßen Problemblase im Familiensystem geworden. Diese sonst so natürliche Sache war hier überhaupt nicht mehr natürlich. Und Marvin ist mittlerweile das, was man einen „Picky Eater“ nennt: ein Junge mit „selektivem Essverhalten“.

Picky Eating – eine ganz normale Phase?

Nicht nur Kinder mit einer solchen Geschichte entwickeln dieses Verhalten, bei Marvin wurde es hierdurch maßgeblich forciert. Die Phasen, in denen diverse Lebensmittel mit gerümpfter Nase abgelehnt oder nur ganz wenige Gerichte überhaupt akzeptiert werden, machen die allermeisten in verschiedenster Intensität oder Dauer durch.

Treffen sie hiermit den Nerv der Eltern, die größte Sorgen entwickeln, dass dem Sprössling ein Nährstoffmangel droht – oder gar massives Untergewicht wie in Marvins Fall – so geraten sie leicht in einen Teufelskreis, der die natürliche Phase der Verweigerung unnötig weit ausdehnt oder auf ein bedenkliches Level hebt.

Viele hochsensible Kinder unter den Picky Eaters

Nicht jedes Kind, das sich selektiv ernährt, ist ein hochsensibles. Andersherum sind unter den „Superfühlkrafthelden“, die immerhin nach Dr. Elaine Aron knapp 20% der Kinder ausmachen, überdurchschnittlich viele, die diverse Lebensmittel ablehnen und dies u.a. mit der Konsistenz, Farbe oder Beschaffenheit begründen. Hochsensibilität zeigt sich auf unterschiedlichste Art und Weise. Ist der Geruchssinn extrem ausgeprägt, so könnten erstaunliche Ablehnungsgründe, wie z.B. „Das Lammfleisch schmeckt nach Hamsterkäfig“, vorgebracht werden. Feingefühl ist bei jedem Kind gefragt, ungeachtet der Ausprägung der Sensibilität. Aber gerade hochsensible Kinder stoßen in ihren jungen (und auch späteren Jahren) häufiger an Verständnisgrenzen und laufen Gefahr, bei erzwungenem Essverhalten zu verlernen, was ihr Körper ihnen sagt – was ihnen gut tut.

Erwachsene wie auch Kinder haben Vorlieben und Abneigungen verschiedenen Nahrungsmitteln gegenüber, das ist normal. Einige ändern sich mit der Zeit, andere bleiben. Erwiesen ist jedoch, dass der Sinn für gesunde Ernährung schon im Kindesalter geprägt wird. So ist ein breit gefächertes Angebot (auch nach mehrmaliger Ablehnung) immer eine gute Wahl.

Regeln für Frieden am Tisch

Damit das Thema „Essen“ nicht zum quälenden Familiendauerkonflikt ausartet, sollten die folgenden Punkte beachtet werden:

  • Die Eltern sollten sich klar machen, dass die Ablehnung eines oder mehrerer Lebensmittel nicht persönlich gemeint ist. Es geht um „Dinge“, nicht um die Qualität oder Anerkennung als Mutter/Vater.
  • Essen sollte bewusst geschehen. Im Idealfall als Familie, gemeinsam am Tisch.
  • Feste Essenszeiten schulen Psyche und Körper, geben Sicherheit.
  • Keine Dauersnacks! Wer sich satt an den Tisch setzt, hat wenig Anlass zu kosten, was da steht.
  • Keine standardisierte „Extrawurst“. Wen es bei Rosenkohl schüttelt, dem sollte er erspart bleiben. Mangelnde Begeisterung für ein Lebensmittel ist jedoch kein Grund, ein Sondermenü zu erhalten.
  • Strafen, Druck und Drohung sind kontraproduktiv. „Nur wenn du die Erbsen isst, darfst du vom Tisch aufstehen!“ Diese Drohung ist weder durchsetzbar noch wird sie dem Kind die Erbsen jemals schmackhaft machen.

Varianten können den Unterschied machen. Zucchini schmeckt nicht? Verarbeitet im Kartoffelpuffer vielleicht aber schon. Äpfel mit dem Spiralschneider als Spagetti mit pürierten Beeren als „Tomatensoße“ – das könnte Spaß machen.

Wenn Snack, dann richtig! „Für den kleinen Hunger zwischendurch“ empfiehlt die Werbung einiges. Und bekanntlich ernährt man sich am gesündesten, wenn man nichts isst, was es in der Werbung gibt. Statt Schokoriegel & Co. bieten sich Obst-/Gemüsesnacks oder gesunde, einfache Süßigkeiten, wie selbstgemachte „Energy Balls“ auf Dattelbasis o.ä. an. So bleibt auch der tiefe Fall in den Blutzucker-Jieper aus.

Essen ist eine natürliche Angelegenheit. Eltern sollten sich weder erpressbar noch verletzbar zeigen. Ist die Mahlzeit vorbei und alle sind satt, wird das Ereignis freundlich und neutral beendet. Und dies möglichst gemeinschaftlich. Je nach Alter des Kindes ist es durchaus zumutbar, gemeinsam sitzen zu bleiben, bis der letzte fertig ist. So wird das Essen nicht beendet, weil etwas anderes interessanter erscheint.

Ganz entgegen der These aus der Geschichte des Suppenkaspers gibt es bei gesunden Kindern keinen Grund zur Sorge, dass sie innerhalb kürzester Zeit in einen Nährstoffmangel fallen und/oder verhungern. Manche Abneigungen legen sich mit der Zeit, andere bleiben. Je öfter Marvin und alle anderen Picky Eaters im Kindergarten und später mit Freunden gemeinsam essen, desto experimentierfreudiger und offener werden sie. Und wenn sie lernen, dass Essen eine freiwillige Angelegenheit ist und kein – noch so wohlwollendes – Elternteil verzweifelten Druck ausübt, desto mehr kann die Natürlichkeit hier auch wieder Einzug halten.

Demokratie und Kreativität am Esstisch

Zwischen „Solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst, wird gegessen, was ich sage!“ und „Für Tina püriere ich die Kartoffeln, während ich für Tim die Erbsen viertele und für Günter wiederum einen Grießbrei koche“ sollte es einen Mittelweg geben.

Wird gemeinsam ein Plan für die Woche erstellt, kann jeder Einfluss darauf nehmen, was auf den Tisch kommt, und wird gleichermaßen toleranter gegenüber den Wünschen der Familienmitglieder. Wird der Freitag zum „ungesunden“ Pizza-Tag, kommt die um die Nährstoffversorgung bangende Mutter sicher besser damit zurecht, wenn der Samstag dafür Gemüsebratlinge mit Kartoffeln und Salat bringt.

Angeboten werden darf jederzeit alles – Zwang ist jedoch fehl am Platz. Schwierig wird es, wenn die Mahlzeit aus nur einer Sache besteht (z.B. Suppe). Hier ist Kreativität gefragt. Eine relativ schlichte Brühe (vielleicht mit „versteckten“/pürierten Vitaminträgern) könnte die Lösung sein, wenn bei Tisch dann selbst kreativ Zutaten hinzugefügt werden können. Croutons, Gemüsewürfelchen, gebratene Pilze, Tofuwürfel, Suppennudeln etc. Es ist kein Geheimnis, dass Kinder das, was sie selbst kreiert haben, lieber essen. Das gleiche Phänomen spiegelt sich auch bei Erwachsenen wider – hier muss man nur an Raclette, Fondue oder Buffet-Restaurants denken.

Spielen und Anfassen erwünscht

Manieren sind wichtig und für ein Leben in unserer Gesellschaft unabdingbar. Doch der Familientisch ist die „heilige Tafelrunde“, hier sollten Spaß, Offenheit und Freude vorrangig sein. Respektvoller Umgang mit dem, was uns nährt, bedeutet nicht, dass Anfassen verboten ist. Der Mensch hat mehr als nur den Geschmackssinn. Lebensmittel müssen berührt, beschnuppert und kennengelernt werden. Eine Karotte macht so viel mehr Spaß, wenn Kind sie rundum abknabbern und dann mit Begeisterung den süßen Kern entdecken darf, als wenn sie nur standardmäßig blass und verkocht ihr Beilagendasein fristet.

Der Teller ist nicht der Mittelpunkt des Universums. Wenn sich die Gespräche am Tisch ausschließlich um das Essen drehen, geht jegliche Natürlichkeit verloren. Wird jede Zutat endlos diskutiert, jeder Rest auf dem Teller analysiert, droht eine komplette Verkopfung. Wenn Marvin z.B. nicht mehr ununterbrochen beobachtet wird, wie er was isst, ist die Wahrscheinlichkeit, dass die kindliche Neugier auf ein neues Lebensmittel siegt, um einiges größer.

Gesundes kann auch lecker sein

Gemüse gibt es nicht nur als Suppe. Und nicht jedes Frühstück muss ein Müsli sein, um das Label „gesund“ zu erhalten. In einer derart vernetzten Zeit wie heute scheinen die Möglichkeiten gesunder und gleichzeitig ansprechender Ernährung unermesslich zu sein. Auch Berufstätigkeit und Auswärtsversorgung oder Brotdosentauglichkeit können schon lange nicht mehr als Argument zählen. „Mealprepping“ ist die moderne, trendy Form des einstigen schnöden Schulbrotschmierens oder Mikrowellen-Fastfood.

Beispiele:

Frühstücksmuffins
Die gesunde Form des beliebten Kindergebäcks – dann auch noch zum Frühstück! Cerealien, gute Kohlenhydrate, geraspeltes Gemüse, kinderfreundlich gewürzt.

Quinoasalat
Lässt sich hervorragend vorbereiten. Jedes Familienmitglied packt sich die eigenen Zutaten mit hinein.

Energy-Balls
Mit nur wenigen Zutaten lässt sich diese gesunde Kohlenhydratbombe herstellen – auch gemeinsam mit Kindern. Als Basis reichen Walnüsse, Datteln und guter Kakao, nach Belieben können allerhand „Superfoods“ beigefügt werden. Geknetet wird zusammen.

Smoothies
In jeder Form und jeder Farbe. Geschmacksneutrale, gesunde Zutaten können hier wunderbar versteckt werden; gleiches gilt für Soßen und Suppen.

Spiralschneider
Weiß nicht fast jeder Erwachsene, dass Omas Apfelschnitze besser schmeckten als der Apfel am Stück? Mit dem Spiralschneider und anderen Küchengeräten können wahre Kunstwerke auf die Teller kommen, z.B. Zoodles (spiralisierte Zucchini) statt Nudeln, Karotten-(haare) statt Möhrensalat u.v.m.

Wann hört der Spaß auf?

Untergewicht ist messbar und sollte nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Werden Essensverweigerung und Gewichtsverlust besorgniserregend, ist professionelle Hilfe gefragt. Kinderarzt und/oder Heilpraktiker sollten konsultiert werden. Es versteht sich von selbst, dass vor jeglicher naturheilkundlicher Therapiemaßnahme eine ganzheitliche Anamnese erfolgen muss, um zu vermeiden, dass man letztlich nur das Symptom behandelt. Ebenso ist selbstverständlich, dass es kein allgemeingültiges Therapie-Rezept geben kann, da gerade Untergewicht eine Vielzahl von Ursachen haben kann. Die folgenden Anregungen gelten daher lediglich als beispielhafte Näherungen für ein individuelles Behandlungsschema.

Zunächst erlauben Bluttests und Ernährungs-Tagebücher Rückschlüsse auf die Ursachen bestehender sowie drohender Nährstoffmängel. Als erstes sollten z.B. Fehlverdauung, chronische Darmerkrankungen oder noch ernstere Krankheiten ausgeschlossen werden. Ist das Untergewicht einer mangelnden Kalorienzufuhr geschuldet, können naturheilkundliche Maßnahmen wesentliche Erfolge erzielen. So kann der Therapeut im Rahmen einer umfassenden Ernährungsberatung gemeinsam mit der Familie bekömmliche, nährstoffabdeckende und kalorienreiche Lebensmittelpläne erarbeiten. Daneben könnte z.B. der Einsatz von Bockshornklee-Präparaten (Foenum graecum in der Homöopathie) oder, je nach Konstitution und Bild des Appetitmangels, ggf. auch Aceticum acidum in Betracht gezogen werden. Auch könnten 2 Akupressurpunkte, die mit dem Thema „Appetitlosigkeit“ in Zusammenhang stehen – KG12 und MI20 – genutzt werden. Begleitend empfiehlt sich, je nach Laborbefund, eine gezielte Supplementierung essenzieller Vitamine, Makro- und Mikronährstoffe.

Wichtig ist, auch die Psyche zu berücksichtigen. Diese kann sowohl Ursprung des Geschehens sein als auch in Folge der oben genannten Problematiken Schaden nehmen. Stehen psychische Faktoren (Stress, Ängste, Sorgen) als Ursache für die Mangelernährung im Fokus, kann gerade bei Kindern die Gabe von Bach-Blüten von Erfolg gekrönt sein. Die Eltern oder Bezugspersonen miteinzubeziehen kann nicht schaden.

Zum guten Schluss

Mit der frühen Kindheit und den Phasen der selektiven Nahrungsaufnahme ist die Risikozeit noch nicht vorbei. So ist die Anzahl von an Anorexia nervosa erkrankten Menschen laut Statistik von 2000 bis 2015 um 50,6% angestiegen (Quelle: statista. com). Soziale Medien und Casting-Shows mit Schwerpunkt auf überschlanke Körper wirken diesem Trend leider nicht entgegen.

Dennoch besteht kein Grund zum Pessimismus. Wie erwähnt durchlebt fast jedes Kind mindestens phasenweise Zeiten, die mit einem stark eingeschränkten Speiseplan einhergehen. Die Allerwenigsten tragen deshalb Schäden davon. Humoristisch betrachtet erkannte schon der Schwabe: „Auch ich wurd groß – nur mit Spätzle und Soß“.

Nahrungsaufnahme ist mehr als nur die Zufuhr von Nährstoffen. Die gesellige Runde am Tisch ist stets auch ein klassisches „Setting“, ein Mikrokosmos, in dem Familie gelebt, Grenzen getestet, Machtspiele betrieben und Werte vermittelt werden. „Würzt“ man dieses Zusammentreffen mit ein wenig Humor und Kreativität und befreit es von Druck, traut sich auch der wählerischste „Picky Eater“, seine Grenzen zu erweitern. Im eigenen Tempo, Stück für Stück und im Wissen, dass respektiert wird, dass das Kind ein Mitspracherecht hat, was es seinem Körper zuführt und was nicht.

Petra NeumannPetra Neumann
Heilpraktikerin, Ernährungsberaterin, Autorin

info@high-sensitivity.de

Buch-Tipp
Petra Neumann:
Henry mit den Superkräften.
… oder – warum in jedem Kind ein Held steckt.
AMH – Natürlich Leben Verlag

Foto: © Marko Novkov / fotolia.com

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