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aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 6/2019

Ihr Inneres Kind braucht Sie!

Cover

Schenken Sie sich selbst Halt

„Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt!“ ist ein bekannter Satz eines der berühmtesten Kinder der Welt. Er wird gerne zitiert, wenn ein Mensch lieber kindlich bleiben will, statt erwachsen zu werden. Diese Alternative erscheint langweilig, trocken, unlebendig. Lieber will man wie Pippi Langstrumpf leben!

Doch was genau ist es, das dieses Mädchen befähigt, sich ihre Welt nach Belieben zu gestalten? Sie ist „stark wie zehn Männer“, hat ein Haus, sorgt für ein Äffchen und ein Pferd. Sie hat ihren Vater, einen sagenhaften Südseekönig, der ihr Halt und Sicherheit gibt. Sie hat ihre Mutter, die im Himmel ist und über sie wacht. Durch ihren Koffer voller Gold ist sie finanziell unabhängig.

Pippi Langstrumpf ist eben genau kein Kind. Sie ist eine Erwachsene im (allerdings sehr starken) Kinderkörper. Sie kann für sich und andere sorgen, sie kann sich selbst beschützen und ist dadurch in der Lage, das in die Tat umzusetzen, was die kleine Pippi in ihrem Inneren will, und die Konsequenzen zu meistern.

Sie ist ein hervorragendes Vorbild dafür, wie man erwachsen und unabhängig wird und gut für sich sorgt, damit man sein Inneres Kind glücklich machen kann.

Sind Sie schon erwachsen?

Die meisten Menschen verwechseln das Erwachsensein mit dem von sich selbst abgeschnittenen Funktionieren. Wenn man als Kind emotional überfordert war, bastelte man sich ein Weltbild, das zu großen Teilen auf Schmerzvermeidung beruht. Man funktioniert wie gewünscht oder besonders emotional, man verleugnet, was Ihr InneresKIND braucht Sie! einen tatsächlich bewegt, nimmt weder seine wahren Gefühle noch seine Wünsche und Träume zur Kenntnis, und tut, was die Situation erfordert, damit man nicht noch mehr verletzt wird. Man ist Opfer der Umstände, die Eltern anbieten oder zumuten. Das Kind kann sich nur anpassen, nicht eigenständig entscheiden und agieren. Es kann verweigern oder funktionieren, mehr Möglichkeiten hat es nicht, wenn ihm nicht zugehört wird.

Dieses ungehörte Kind mit all seinen Emotionen und Ängsten tragen wir immer in uns. Und es braucht heute genau dasselbe wie damals: Schutz, Liebe und Sicherheit, damit wir unser Leben als Erwachsene bewusst und schöpferisch gestalten können.

Doch niemand sagt jemals explizit, dass wir nun erwachsen sind und damit die Verantwortung für uns und unsere Entscheidungen nicht nur übernehmen dürfen und sollen, sondern, und das ist der Knackpunkt, dies auch KÖNNEN. Das Gehirn ist aufgrund seiner Reifung in der Lage, die Dinge und die Verantwortung, die wir für uns selbst auf uns nehmen, zu überschauen. Wenn ein Mensch das aber nicht üben durfte, er nicht nach und nach in seine Selbstbestimmung geführt wurde, ihm nicht erlaubt wurde, eigene, auch unbequeme Entscheidungen zu treffen, ohne dass sofort Schmerz durch Liebesentzug, Ärger, Enttäuschung oder Gleichgültigkeit die Folge war, dann weiß diese Person gar nicht, dass sie es nun kann. Sie verwechselt das angestrengte, von sich selbst entfremdete Wesen, zu dem man aus Not geworden ist, mit dem echten Erwachsenen, der seine eigenen Entscheidungen trifft und „Ja“ sowie „Nein“ sagen kann und darf.

Die folgenden Rechte haben Sie als Erwachsener – Sie dürfen sie jederzeit für sich in Anspruch nehmen:

  • Sie haben das Recht, „Nein“ zu sagen, wenn Ihnen eine Situation nach sorgfältiger Prüfung gegen den Strich geht, weil sie nicht Ihrem Leben dient.
  • Sie haben das Recht, „Ja“ zu sagen, wenn Ihnen eine Entscheidung sinnvoll und Ihrem Leben dienend erscheint.
  • Sie haben das Recht, Ihre innerste, gewissenhaft geprüfte Wahrheit zu Ihrer Handlungsgrundlage zu machen, ob sie jemandem gefällt oder nicht.
  • Sie haben das Recht, die Konsequenzen Ihrer Entscheidungen zu tragen und auf sich zu nehmen.
  • Sie haben das Recht, sich vollkommen verantwortlich für sich und Ihr Leben zu fühlen und alles zu tun, was Sie und Ihr Leben nährt und schützt.
  • Sie haben das Recht, für all das einzustehen, was Ihnen heilig ist und innig am Herzen liegt, egal, ob es jemand anderem gefällt oder nicht.
  • Sie haben das Recht, Sie selbst zu sein.

Wir dürfen als Erwachsene wirklich tun, was wir wollen. Denn die Konsequenzen tragen wir auch. Die fürs Tun und die fürs Nichttun (die ganz besonders). Als wahrhaft Erwachsener trifft man seine Entscheidungen achtsam und nicht aus Angst und mit dem Ziel der Schmerzvermeidung, sondern aus Liebe zu sich selbst und aus Verantwortung für das Leben. Man versteckt sich niemals hinter billigen Ausreden und Argumenten, sondern ist verfügbar und verantwortungsbewusst. Besonders sich selbst gegenüber.

Die Macht Ihres Inneren Kindes

Was ist das Besondere am Inneren Kind? Warum dominiert es die eigenen Entscheidungen, wenn man es nicht bewusst in sich hütet? Weil es aus dem irrationalen Emotionalhirn heraus agiert. Dieser Teil des Gehirns ist entwicklungsgeschichtlich älter als der präfrontale Cortex, in dem Vernunft, Bewusstsein, Selbstbestimmung, Selbstverantwortung und Mitgefühl zuhause sind. Bei Stress reagieren die älteren Hirnteile schneller und bestimmen die Handlungen. Man agiert, als wäre man ein Kind, das vermeiden muss, abgelehnt zu werden, statt ein vernünftiger Erwachsener, der mit den Konsequenzen seiner Handlungen umgehen kann. Weil er weiß, dass er unabhängig ist und sich seine Schokolade selbst kaufen kann.

Wie entsteht das Innere Kind?

Ein Baby ist allen umgebenden Eindrücken ausgeliefert. Es hat keine Möglichkeit, Einflüsse zu filtern und ist weitestgehend handlungsunfähig. Es macht, wenn es Glück hat, die Erfahrung von existenziellem Getragensein. Oder, wenn niemand da ist, der es hält, von existenzieller Unsicherheit und sehr realer Todesangst. Die meisten Menschen machen beide Erfahrungen.

Wenn die kindlichen Bedürfnisse nicht zeitnah erfüllt werden, schlägt das Angstzentrum im Gehirn Alarm. Das muss es auch. Denn das Überleben hängt davon ab, ob das Kind genährt und versorgt wird. Die Wahrnehmung eines schreienden Babys und Kleinkinds wird oft dramatisch unterschätzt und gipfelt in Sätzen wie: „Das Kind will ja nur Aufmerksamkeit“ etc. Natürlich will es Aufmerksamkeit! Wenn ein Baby diese nicht bekommt, dann stirbt es. Es verhungert, verdurstet und erfriert oder wird von Tieren geholt, zumindest ist diese Erfahrung im Stammhirn abgespeichert. War die Mutter in früheren Zeiten auf einmal weg, konnte man davon ausgehen, dass sie gefressen worden war.

Für das Stammhirn leben wir noch immer in lebensbedrohlicher Steinzeit. Niemals hätte eine Mutter ihr Kind allein in einer Höhle zurückgelassen. Woher soll das Kind wissen, dass es in wenigen Minuten „gerettet“ wird?

Die Entwicklung von Bewusstsein, Verstand, logischem Denken und zur Unterscheidung zwischen sich selbst und dem Rest der Welt folgen erst, wenn das Gehirn heranreift. Denn dieser Prozess empfindet genau die Reihenfolge nach, in der das Gehirn auch entwicklungsgeschichtlich gereift ist. Der Frontallappen, in dem Vernunft und konstruktive Problemlösungsfähigkeiten zu finden sind, ist beim kleinen Kind noch nicht aktiviert. Es reagiert ohne bewusste kognitive Fähigkeiten und erfährt seine Umwelt unmittelbar durch emotionales und körperliches Erleben. Es ist nicht in der Lage zu reflektieren und das, was es erlebt, zu überdenken. Es hat noch keine Sprache, somit ist es nicht in der Lage, sich auszudrücken und verständlich zu machen, außer durch seinen emotionalen und körperlichen Ausdruck.

Generationen von Angstmustern

Das Kleinkind ist in seinem Erleben und in seiner Sicht der Welt völlig von seiner Umgebung abhängig. Besonders im Angstzentrum, der Amygdala, sind die emotionalen Reaktionen der nahen Bezugspersonen verinnerlicht. Das ist sehr sinnvoll, wenn diese Reaktionen angemessen sind; wahrhaft beängstigende Erfahrungen überlebt man oft nicht, schon gar nicht als kleines Kind. Leider eignet sich das Kind auch die unangemessenen und irrationalen Angstmuster der Menschen in seiner Umgebung an. So lernt es vom Inneren Kind der Eltern, das seine Angstmuster wiederum von den Inneren Kindern seiner Eltern, also den Großeltern, übernommen hat usw.

Gefahr im Verzug

Alles, was dem Gehirn durch eigenes Erleben oder die emotionalen Reaktionen der nahen Bezugspersonen bedrohlich vorkommt, wird gespeichert. Die Amygdala „lernt“ über Emotionen, v.a. über Angst und Schock. Und das schnell. Wenn man als kleines Kind bedroht wird oder Angst bekommt, rafft das Gehirn sämtliche Ereignisse, die während des Schocks geschehen, ungesehen und ungeprüft zusammen. Es ist, als greife sie während des Traumas, bildlich gesprochen, nach allen vier Tischtuchzipfeln einer gedeckten Tafel und stopfe das Ganze mitsamt Geschirr und Besteck, der Vase mit den Blumen, den Essensresten, der Tischdekoration, den Kerzen und auch den Servietten und vollen Rotweingläsern zusammen in eine Kiste. Sogar die CD mit der Musik, die gerade läuft, und alle Düfte im Raum werden dazugepackt. Darauf wird geschrieben: „Gefahr, verlassen zu werden“. Oder „Gefahr, körperliche Gewalt“, „… Verletzung“, „… Verhungern“. Oder was auch immer. Manchmal wird sogar noch der entsprechende Seelenanteil mit weggeschlossen, damit man die Sache komplett vergisst und weitermachen kann. Der Mensch fühlt sich an dieser Stelle dann zwar leer, hat keine Erinnerung, ist wie taub, aber er kann weiterleben.

Bei einem Schock werden also sämtliche bewussten Hirnteile, die bei Kindern sowieso nicht ausgereift sind, ausgeschaltet und die Amygdala ergreift (zusammen mit anderen Hirnregionen) das Kommando. Blitzschnell wird entschieden, ob eine Situation bedrohlich ist oder ob man entspannt bleiben kann. Im ersten Fall wird für die passende Hormonausschüttung gesorgt, sodass Flucht, Angriff oder Erstarrung ermöglicht werden, je nachdem, welche Reaktion nach Meinung des Gehirns angemessen erscheint. Soweit ist das alles wunderbar und genau richtig. Wird ein Kind nach einer emotionalen Verletzung getröstet, darf es weinen, wütend werden oder trauern, dann kommt es wieder in sein emotionales Gleichgewicht. Sofern sich die belastende Erfahrung nicht wiederholt, sortiert das Gehirn diese „Gefahren-Kiste“ nach und nach aus und sorgt dafür, dass alles gereinigt wird und an seinen Platz kommt, um im oben beschriebenen Bild zu bleiben.

Nie wieder Schmerz

Was aber passiert üblicherweise? Man wurde nicht getröstet, niemand hat mitbekommen, dass das Kind einen emotionalen Schock erlitten hat. Die Kiste modert im Inneren vor sich hin. Geschieht nun etwas, das an den Inhalt der Kiste erinnert, auch wenn es überhaupt nicht unmittelbar mit dem Schock selbst in Verbindung steht, reagiert das Gehirn wie auf eine echte Gefahr. Und das bedeutet Flucht, Angriff oder Erstarrung.

Wenn man nun weiß, dass eine der ältesten und wichtigsten Funktionen des Gehirns die Schmerzvermeidung ist, kann man sich vorstellen, wie viele unbewusste Tricks man anwenden wird, um die Gefahren-Kiste nie wieder berühren zu müssen, um ihr nicht einmal mehr nahe zu kommen. Dazu braucht man gar nichts beizutragen, das Gehirn macht das ganz von allein.

Wenn der Mensch älter wird, versucht er mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, zu verstehen. Er zieht aus dem, was ihm geschah, Schlussfolgerungen und stellt Verhaltensregeln auf, um in Zukunft Schmerzen zu vermeiden. Er beginnt, sich selbst zu kontrollieren und bildet, weil das Gehirn noch nicht ausgereift ist, teilweise merkwürdige kognitive Verknüpfungen, ohne sie zu hinterfragen, weil auch sie unbewusst passieren:

  • Wenn ich niemanden an mich heranlasse, werde ich auch nicht enttäuscht.
  • Wenn ich keine Gefühle zeige, merkt niemand, dass ich welche habe.
  • Wenn ich nur ganz flach atme, tut es nicht so weh.
  • Hunde, Männer, Frauen, dunkle Tunnel, Mäuse, Spinnen, Abschiede, Gefühle etc. sind gefährlich.
  • Wenn ich funktioniere, komme ich irgendwie durch.

Wann immer eine Situation an eine kindliche Verletzung erinnert, sendet das Angstzentrum „Gefahr im Verzug!“. Man reagiert mit Angriff, Erstarrung oder Verteidigung, ohne zu verstehen, was eigentlich gerade los ist. Womöglich glaubt man sogar, die eigene Reaktion wäre vernünftig und angemessen.

Schenken Sie sich selbst Halt

Der Erwachsene, der Sie heute sind, kann sich entscheiden, für das Innere Kind das zu tun, was früher so dringend nötig gewesen wäre: Ihm Sicherheit und Fürsorge angedeihen lassen.

Denn was wäre, wenn es nur darum ginge, zu dem Menschen zu werden, den wir als Kind so dringend gebraucht hätten? Ist man erwachsen, wird man seine Verletzungen und die dazugehörige Schmerzvermeidung nicht zur Handlungsgrundlage erheben, sondern sich gut um sich kümmern. Dazu ist es hilfreich, dem Inneren Kind folgende Rechte zuzugestehen:

  • Wenn jemand gemein zu dir ist, darfst du weinen und du brauchst nicht mehr hinzugehen.
  • Du darfst dir Zeit nehmen, einfach mal nichts zu tun, nur den Wolken zuzuschauen oder Blumen zu pflücken.
  • Du darfst Fehler machen und dich selbst ausprobieren.
  • Wenn dir etwas keinen Spaß macht, hör auf damit.
  • Geh zu Menschen, die dich umarmen, die dich lieb haben und denen du deine Liebe uneingeschränkt zeigen kannst und darfst.
  • Du darfst albern sein und musst dich selbst nicht ständig erklären.
  • Wenn du etwas nicht kannst, bitte um Hilfe. Erinnere dich daran, dass du nicht alles allein zu machen brauchst.

Zu lernen, liebevoll und beschützend mit diesem so verletzlichen Inneren Kind umzugehen, gibt uns die Freiheit, aus dem Herzen statt aus der eigene Bedürftigkeit heraus zu leben, die Konsequenzen unserer Handlungen zu tragen und somit wahrhaft frei zu sein.

Susanne HühnSusanne Hühn
Ausgebildete Lebensberaterin und ganzheitliche Physiotherapeutin; seit 1986 begleitet sie Menschen auf ihrem Weg zur Gesundung; Autorin zahlreicher Ratgeber und CDs
kontakt@susannehühn.de

Buch-Tipp
Susanne Hühn:
Jede Wunde lässt sich heilen.
Wie wir emotionale Verletzungen und Kränkungen aus der Vergangenheit loslassen.
Gräfe & Unzer Verlag

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