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aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 5/2020

Der Einfluss pränataler Prägungen

Cover

Wichtig für werdende Eltern, aber auch bei unklaren
Beschwerden einen Blick wert

Unsere Kindheitserfahrungen sind uns nicht ohne Weiteres zugänglich, weil alle Ereignisse, die vor dem 3. Lebensjahr stattfinden, vergessen werden. Dies wird „infantile Amnesie“ genannt und hat mit der noch unentwickelten Hirnreife des Kleinkindes zu tun. Doch die Ereignisse sind nicht verschwunden, sie werden gespürt und später in Übertragungen inszeniert. Wie wir anderen Menschen begegnen, wird stark von unseren frühen Kindheitserfahrungen beeinflusst, die schon im Uterus der werdenden Mutter beginnen. Es handelt sich also um vorsprachliche Erinnerungen, und unser Körpergedächtnis bietet den Zugang zu diesen verborgenen psychischen Inhalten. Mittlerweile ist sogar die Erinnerung des neugeborenen Kindes an die Mutterstimme nachweisbar.

Bezüge zur pränatalen Lebensphase

In den letzten Jahrzehnten ist die Aufmerksamkeit auf die frühe Kindheit in Psychologie und Medizin gestiegen. Diese erfreuliche Entwicklung hat allerdings aufgrund einer Vielzahl unterschiedlicher Erkenntnisse zu Irritationen geführt, v.a. aber wird sie in der Praxis zu wenig genutzt. Familien am Übergang zur Elternschaft werden z.B. mit zahlreichen verschiedenen Meinungen hinsichtlich Schwangerschaft, Geburt und Kind konfrontiert; ihre eigenen, oft körperlich gespürten Kindheitserfahrungen können aber eine viel erheblichere Rolle spielen als einzelne Verhaltensweisen. Auch in der täglichen Praxis zeigen sich Bezüge zur pränatalen Lebensphase: So besagt das „fetal programming“1), dass z.B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, aber auch psychosomatische Störungen nicht selten auf pränatale Prägungen zurückgeführt werden können.

Für die Mutter beginnt mit der Schwangerschaft die „Mutterschaftskonstellation“2), die in der psychischen und somatischen Fokussierung auf ihr Kind besteht. Schwangerschaft und Geburt bedeuten für alle Beteiligten eine besondere Lebensphase, die mit erheblichen Belastungen verbunden sein kann. Hieraus können nicht nur Regulationsstörungen des Säuglings entstehen, sondern auch schweres Belastungserleben auf Seiten der Eltern3). Es scheint, dass die „neue Morbidität“ im Rahmen von Schwangerschaft und Geburt weit über das Säuglingsalter hinaus wirkt und zumindest teilweise auf Ungeduld und Leistungsdruck beruht4). Und es gibt noch weitere Zusammenhänge zur Pränatalzeit: Besonders kleine und frühgeborene Kinder kommen oft zu früh in die Pubertät, und ADHS-Diagnosen werden häufig im Rahmen zu früher Einschulungen gestellt. Das „zu früh“ scheint in beschleunigten Zeiten eines der größten Probleme zu sein.

Fallstudien

1. Diffuse psychosomatische Beschwerden
Im Rahmen einer einjährigen Psychotherapie berichtete eine 28-jährige Patientin von ihrer vorzeitigen Geburt und dem Umgang ihrer Mutter damit. Diese ließ die Tochter immer wieder wissen, dass sie ihr Mühe bereite und immer zu viel wolle, nicht nur von ihr, sondern auch von anderen Menschen. Die Patientin räumte ein, dass das so sei und sie sich selbst als sehr anstrengend empfinde. Ihr Freund habe das einmal als „hysterisch“ bezeichnet, was sie sehr gekränkt habe, da sie ihr scheinbar forderndes Verhalten nahezu als „biologisches Grundbedürfnis“ empfinde. Dazu muss gesagt werden, dass sie nicht permanent fordernd war und durchaus Abstand von sinnlosen Verhaltensweisen nehmen konnte. Die intelligente junge Frau wirkte nicht gierig, sondern eher bedürftig, als ob in ihrem Leben etwas grundlegend in Unordnung sei. Im Laufe der Therapie erschien es folgerichtig, dass, da sie ohne Vater und mit einer scheinbar überforderten Mutter aufgewachsen war, ihre uneindeutigen psychosomatischen Symptome aus der konflikthaften Sozialisation und der Familiendynamik stammten. Zum Ende der Therapie ergaben die vielen Klagen ihrer Mutter mehr Sinn als angenommen, denn diese hatte entbinden müssen, bevor sie ein wichtiges berufliches Projekt beenden konnte. Erst die genaue Schilderung der vorgeburtlichen Zeit der Patientin eröffnete das Panorama ihrer Lebensgeschichte, die tief mit der ihrer Mutter verwoben war.

2. Körperliches Missempfinden und Gefühllosigkeit
Seine Beschwerden kannte der junge Mann, der in die Praxis kam, bereits sein ganzes Leben lang. Er war von seinem Hausarzt schon an viele Stellen überwiesen worden und hatte eine lange Facharztreise hinter sich, ohne jemals einen Befund erhalten zu haben. Der sympathische Berufsschüler zeigte in seiner Ausbildung hervorragende Leistungen und hatte ein einnehmendes Wesen. Eine niederfrequente Begleitung durch einige
Lebensphasen erschien sinnvoller als eine konfliktorientierte Behandlung, die ihn vielleicht zusätzlich belastet und destabilisiert hätte.

Seine Kindheit war unauffällig gewesen, doch kannte er sein seltsames Verhalten nur zu gut, da er sich immer irgendwie anders als die anderen gefühlt hatte. Eine gewisse Kontaktscheu hatte er stets überspielt und es stattdessen im Fitnessstudio zu ansehnlichen Leistungen gebracht. Der Patient führte eine Strichliste seiner weiblichen Eroberungen, die er unter Alkohol und durch plumpe Anmache fortlaufend zu erweitern suchte.

Als Kind war er phasenweise von einer zur anderen Bezugsperson „durchgereicht“ worden, weil die alleinerziehende Mutter viel arbeiten musste. Dennoch war der Kontakt zu ihr sowie zu seinem Vater erstaunlich gut, sodass meine Hypothese, dass es ihm an festen Bezugspersonen gemangelt hatte, nicht die Dimension seiner Grundstörung widerspiegelte.

Der Patient kannte auch Zuckungen und Schluckstörungen; einmal meinte er, er würde ersticken, ein anderes Mal, sein Penis könnte abfallen. Alles hatte mit seinem Körper zu tun, der, wie er mit der Zeit erzählte, von seiner Mutter während der Schwangerschaft mit Alkohol und Drogen malträtiert und vom Vater mehrfach körperlich angegriffen worden war. Sie hatte sich noch schwanger vom Vater getrennt. Vor allem aber sei sie während der Schwangerschaft sehr ambivalent gegenüber ihrem Kind gewesen, was aber mit der Geburt verschwunden sei. Es hatte also eine Art Überlebenskampf im Uterus der Mutter gegeben sowie einen nachgeburtlichen Kampf um Anerkennung, der sich bis heute in angstgetöntem Körperempfinden und suchtähnlichem Verhalten gegenüber Frauen zeigte. Erst indem diese Einsichten langsam zutage traten, konnten sie mit dem Körperempfinden des Patienten in Verbindung gebracht werden. Dessen Veränderung sollte Jahre dauern, wurde aber von ihm, der mir in großen Zeitabständen darüber berichtete, mit körperorientierten Techniken gut gemeistert.

Früheste Erfahrungen immer mit einbeziehen

Um problematische Verfestigungen psychosomatischer Dysfunktionen sowohl bei Eltern als auch beim Kind zu vermeiden, sollten pränatalpsychologische und -medizinische Kompetenzen entwickelt werden. Konkret heißt das, in der Praxis die frühe Entwicklung von Kindern und Erwachsenen in den Blick zu nehmen und Irritationen aus Schwangerschaft, Geburt und der ersten Phase nach der Geburt zu erkennen und im Beschwerdebild zu verorten5).

Im Bereich der werdenden Elternschaft gilt es, gegenseitige Bezogenheit erfahrbar zu machen und damit die kindliche Entwicklung in der frühen Bindung sowie die pränatale Umwelt zu stärken, die bereits Einfluss auf die Gehirnentwicklung hat. Aus der Geburtshilfe ist bekannt, dass werdende Mütter schon vorgeburtlich Befürchtungen, Ängste und Belastungen zu erkennen geben, mit denen oft unzureichend umgegangen wird. Hinter dem immer häufiger geäußerten Wunsch nach Entbindung per Kaiserschnitt können zudem Traumata aus der eigenen Herkunftsgeschichte oder einer vorausgegangenen Schwangerschaft liegen, die eventuell mit Stillstörungen zusammenhängen. Ist man sich dieser Connection bewusst, so ist der erste Schritt zur Symptomreduzierung bereits getan. Eine behutsame verbale Begleitung von Patientinnen über einen längeren Zeitraum kann hilfreich sein und Ängste abmildern.

Die Erkenntnisse über pränatale Prägungen in die verschiedenen Praxisfelder zu integrieren, stellt zwar eine Herausforderung, aber auch eine lohnende Aufgabe dar.

Götz Egloff, Mag.
Psychoanalytiker, Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut, Heilpraktiker für Psychotherapie
g.egloff.medpsych.ma@email.de

Buch-Tipp
Götz Egloff:
Pre- and Postnatal
Psychology and Medicine.
Nova Science Publishers Inc.


Literatur

1) Gluckman, P. & Hanson, M.: Developmental Origins of Health and Disease. New York, Cambridge UP, 2006
2) Stern, D.: Die Mutterschaftskonstellation. Stuttgart, Klett-Cotta, 1998
3) Papoušek, M. & von Hofacker, N.: Disorders of excessive crying, feeding, and sleeping. The Munich interdisciplinary research and intervention program. Infant Mental Health J 19:180-201, 1998
4) Egloff, G. & Djordjevic, D.: Pre- and postnatal psychosomatics in the social context. In: Egloff G, Djordjevic D (eds.): Pre- and Postnatal Psychology and Medicine. New York, Nova Science, 2020
5) Janus, L.: Geburt. Gießen, psychosozial, 2015

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