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aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 5/2021

Mobilfunk muss anders!

Cover

Warum die neue Bundesregierung die Mobilfunk-Politik unbedingt überdenken sollte

So, wie sich derzeit die Klima-Politik effektiv zu ändern beginnt, muss das auch mit der Mobilfunk-Politik passieren – zumal beide durchaus etwas miteinander zu tun haben. Die Zeit ist vorbei, dass man intellektuell sagen konnte: „Die geltenden Grenzwerte schützen ausreichend und verlässlich vor der Strahlung.“ Bezeichnenderweise hat das US-Bundesgericht aktuell im August die dortige Regulierungsbehörde Federal Communication Commission (FCC) verpflichtet, endlich darzulegen, warum sie wissenschaftliche Nachweise für Schäden durch drahtlose Strahlung seit vielen Jahren ignoriert habe – ein international wegweisendes Urteil, an dem sich nicht zuletzt das deutsche Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) orientieren sollte.

Lange genug hat eine kleine, aber international bestens vernetzte Gruppe von Wissenschaftlern die Diskussion und die Politik weltweit beherrscht, nämlich der private Verein ICNIRP (International Commission on Non-Ionizing Radiation Protection). Über Jahrzehnte hin herrschte dank dieses Einflusses beim Thema Mobilfunk in Politik und Wissenschaft das Dogma vor, die umstrittenen elektromagnetischen Felder (EMF) mit ihrer künstlichen Pulsation hätten lediglich thermische Effekte und keine biologischen; sie schadeten also gesundheitlich nicht, sofern gewisse, wegen der Fixierung auf den Wärmeaspekt großzügig zu definierende Grenzwerte eingehalten würden.

Noch immer sind die ICNIRP-Richtlinien von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) anerkannt und in der EU in Geltung. Aber eine verdächtige Industrienähe der ICNIRP, und zwar ausgerechnet zu jenen Branchen, deren Technik von möglichst hoch angesetzten Grenzwerten profitiert, ist bereits 2019 im Berliner Tagesspiegel dank gründlicher journalistischer Recherchen bestätigt worden. Mitte 2020 haben die beiden EU-Abgeordneten Michèle Rivasi (Europe Écologie) und Klaus Buchner (Ökologisch-Demokratische Partei, ÖDP) den Report „Die Internationale Kommission zum Schutz vor nichtionisierender Strahlung: Interessenkonflikte, Corporate Capture und der Vorstoß zum Ausbau des 5G-Netzes“ veröffentlicht. Er erschien in englischer, französischer und deutscher Sprache in Brüssel; seit Frühjahr 2021 ist er auch als Broschüre auf Deutsch erhältlich. Nicht von ungefähr hat kürzlich in den Niederlanden ein Gericht entschieden, dass die von ICNIRP vorgeschlagenen und in vielen europäischen Ländern gesetzlich vorgeschriebenen Grenzwerte den Schutz der Gesundheit nicht sicherstellen.

Hinzu kam im Frühjahr 2021 eine groß angelegte Überblicksstudie zum Mobilfunk für die Schweizer Regierung mit überraschend klaren und kritischen Resultaten. Demnach können biologische Effekte der umstrittenen Strahlung als wissenschaftlich erwiesen gelten. Im International Journal of Molecular Science legten David Schuermann und Meike Mevissen dar, dass Strahlen-Exposition sogar schon im niedrigen Dosisbereich zu biologischen und gesundheitlich bedenklichen Effekten führen kann. Dank diesem vom Umweltbundesamt der Schweiz finanzierten Review lässt sich nicht länger bestreiten, dass die nun bald flächendeckend installierte, invasive Mobilfunkstrahlung Ursache so mancher körperlicher und nervöser Beschwerden durch die Auslösung von oxidativem Zellstress ist.

Die umfassende Aufarbeitung von 223 Arbeiten lässt erkennen: „Die Produktion von reaktiven Sauerstoffspezies (ROS), die möglicherweise zu zellulärem oder systemischem oxidativem Stress führen kann, wurde häufig durch EMF-Exposition in Tieren und Zellen beeinflusst.“ Deutlich zeichnet sich im Gesamt- überblick – ungeachtet der einen oder anderen schwächeren Studie – als klarer Trend ab, dass die umstrittene Strahlung tatsächlich weit unterhalb der geltenden Grenzwerte „zu Veränderungen im zellulären oxidativen Gleichgewicht führen kann“. Wie die Autoren erklären, sind Personen mit Vorerkrankungen anfällig für gesundheitliche Auswirkungen.

Dieses Resultat lässt auch das Phänomen der Elektro(hyper)sensibilität (EHS), unter dem einstellige Prozentanteile der Bevölkerung leiden, in anderem Licht erscheinen. Oft als „Aluhut-Träger“ diskriminiert, erfahren Betroffene offenbar oxidativen Stress in ihren Körperzellen; ihre Beschwerden lassen regelmäßig spürbar nach oder verschwinden, wenn die EMF-Exposition verlassen oder durch Abschirmung aufgehoben wird. Dass die Ursache für EHS lediglich psychischer Natur sei, ist eine bislang verbreitete, reduktionistische Auffassung, die sich künftig verbietet.

Es ist also höchste Zeit, dass Politik, Industrie, Wirtschaft, Justiz, Behörden und Medizin das gesundheitsschädigende Potenzial von Mobilfunkstrahlung anerkennen und gebührend berücksichtigen. Hier ist ein folgenreiches Umdenken in der Gesellschaft gefordert, das wegen der grundrechtlich geforderten körperlichen Unversehrtheit Vorrang vor anderweitigen Rücksichtnahmen hat. Entsprechende Forderungen wurden in letzter Zeit mit Recht durch Verbände zahlreicher Bürgerinitiativen laut. Im Folgenden formuliere ich selbst 10 Forderungen, die ich aus ethischer Sicht für dringlich halte.

  1. Die Mobilfunk-Politik hierzulande muss korrigiert werden. Sie beruht auf einer völlig einseitigen Wahrnehmung internationaler wissenschaftlicher Befunde hinsichtlich biologischer Effekte der elektromagnetischen, künstlich gepulsten Strahlung. Solch anhaltende Ignoranz gegenüber warnenden Forschungsresultaten irritiert die Bevölkerung: Fast die Hälfte war 2020 einer repräsentativen Umfrage im Auftrag des Digialverbands Bitkom zufolge gegen den laufenden Mobilfunk-Ausbau.
  2. Das Fordern und Fördern vermehrter Aufklärung muss von Aufrichtigkeit getragen sein. Sie darf sich darum keinesfalls länger – wie bisher üblich – auf die Auskünfte und Empfehlungen der seit 1992 tätigen ICNIRP stützen. Deren bekannte Industrie- und Wirtschaftsnähe zeigt sich in höchst großzügig ausgelegten Mobilfunk-Grenzwerten, die sich systematisch an thermischen Befunden orientieren (bei Tests primär an totem Gewebe über nur kurze Zeiträume). Das ist aus wissenschaftlicher Sicht purer, interessengeleiteter Reduktionismus. Prof. Armin Grunwald, Leiter des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag, hat Recht, wenn er sagt: „Ein wirtschaftliches Interesse darf nicht mehr zählen als das Interesse der Menschen, körperlich unversehrt zu bleiben.“
  3. Die selektionierte Beachtung wissenschaftlicher Studien zu Mobilfunk-Risiken ist ab sofort gesellschaftlich sowie in der Forschung zu ächten. Denn es geht angesichts bald flächendeckender Bestrahlung um die sehr ernste Frage von Gesundheitsgefahren für die gesamte Menschheit – auch für Tiere und Pflanzen. Tatsächlich weiß das Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Bundestag: Die jahrelange Erforschung der Strahlen-Effekte auf lebende Organismen kam bis heute zu teils nicht eindeutigen, nicht übereinstimmenden Befunden, woraus unterschiedliche und „konträre Interpretationen resultieren“. Das bedeutet, dass sich einseitige Interpretationen verbieten und Risiken bislang keineswegs wissenschaftlich so auszuschließen sind, wie mitunter dreist behauptet wird.
  4. Die durchschaubare Ignoranz gegenüber den beachtlichen Risiken der Mobilfunk-Strahlung muss ein Ende haben. Es geht hier nicht um Verschwörungstheorien oder esoterische Wahnvorstellungen, sondern um sehr begründete Warnungen. Das beweist der Umstand, dass nicht nur Teile der Forschung, sondern auch Investoren und Rückversicherungsunternehmen in den letzten Jahren zu deutlich warnenden Verlautbarungen gekommen sind. Wenn Mobilfunk-Risiken nicht versichert werden können, wer übernimmt dann am Ende die Verantwortung für negative, zum Teil erst langfristig erkennbare Auswirkungen der umstrittenen Strahlung auf die Gesundheit der Bevölkerung? Wer haftet?
  5. Gerade in Sachen Mobilfunk ist Vorsorge dringend geboten und konsequent zu fördern. In Art. 191 des geltenden EU-Vertrags heißt es: „Die Umweltpolitik der Union beruht auf den Grundsätzen der Vorsorge und Vorbeugung.“ Indessen tut die derzeitige Mobilfunk-Politik ungefähr alles, um dieses ethisch so zentrale Gebot zu umgehen. Dabei ist an den Risiken, die entsprechende Vorsorge-Forderungen begründen und dringlich machen, nicht mehr ernsthaft zu rütteln. Deshalb müssen unglaubwürdige Beschwichtigungsversuche einer vertrauenswürdigen Vorsorge-Politik weichen. Diese hat auf endlich verpflichtendem Roaming (gemeinsame Nutzung eines einzigen Funknetzes statt mehrerer, parallel laufender Netze) zu bestehen und auf zügigeren Glasfaserausbau zu drängen.
  6. Den umstrittenen 5G-Mobilfunk als ungefährlich darzustellen (wie 2020 etwa in Berlin bei der Vorstellung der „Dialoginitiative“ geschehen), sollte nicht länger hingenommen werden. Zu offenkundig und im Grunde zu riskant ist die Einseitigkeit solcher „Propaganda“. Rund um den Erdball wurden Forderungen von Wissenschaftlern und Ärzten nach einem 5G-Moratorium angesichts der Unklarheiten bei 5G laut. Im Februar 2020 wies der Wissenschaftliche Dienst des Europäischen Parlaments in einem Abgeordneten-Briefing ausdrücklich auf 5G-Risiken hin: „Zusammen mit der Art und Dauer der Exposition scheinen Eigenschaften des 5G-Signals wie das Pulsieren die biologischen und gesundheitlichen Auswirkungen der Exposition zu verstärken, einschließlich der DNA-Schäden, die als Ursache für Krebs angesehen werden.“ In vielen Ländern der EU haben Städte und Ortschaften sich geweigert, 5G ohne klaren Unschädlichkeitserweis installieren zu lassen.
  7. Künftig müssen auch die ökologischen Schädigungspotenziale des Mobilfunks in die Diskussionen einbezogen werden. Es geht nicht an, wie etwa jüngst Bundesumweltministerin Svenja Schulze, 5G als „riesige Chance für den Klimaschutz“ hinzustellen und somit zu vertuschen, dass etwa der Stromversorger E.on vor einem Jahr warnte, durch 5G werde der ohnehin stark wachsende Energiebedarf von Rechenzentren bis 2025 um 3,8 Milliarden Kilowattstunden steigen, oder dass laut Huawei 5G-Router daheim zehnmal mehr Energie als bisherige benötigen. Zudem braucht 5G viel mehr Sendestationen, was den Energieverbrauch durch Funk weiter in die Höhe zu treiben droht. Entschieden zu fordern ist seine Senkung, z.B. durch die Trennung von Indoor- und Outdoor-Funkversorgung.
  8. Die gesundheitlichen Beschwerden von elektrosensiblen Menschen dürfen nicht länger als „bloß eingebildet“ abgetan werden. Ohne dass psychische Komponenten bei entsprechender Hochsensibilität gegen künstlich gepulste Strahlung auszuschließen sind, müssen die biologischen Aspekte und ihre wissenschaftlichen Begründungsmodelle endlich auf breiter Ebene ernstgenommen werden. Es ist ein untragbarer Zustand, dass viele Tausende Betroffene diskriminiert werden, indem sie faktisch ihrer Grundrechte auf Unverletzlichkeit ihrer Würde, ihrer körperlichen Gesundheit und ihrer Wohnung beraubt werden. Mittlerweile sind biologische Effekte der Strahlung durch etliche Studien erwiesen. Nur ignorante Einseitigkeit und mangelnde Empathie können sich erdreisten, sich über die Leiderfahrungen Betroffener unter Berufung auf meist interessengeleitete Studien zu erheben. Zu fordern sind Schutzräume, nämlich strahlungsfreie Regionen in Städten, auf dem Land und in Naturschutzgebieten.
  9. Dass Strahlen-Kritik den Fortgang des Digitalisierungsprogramms „bremsen“ könnte, ist unbestreitbar, rechtfertigt aber nicht ihre Tabuisierung oder Bekämpfung. „Internet abschalten. Das Digitale frisst uns auf“, so der Titel eines klugen Büchleins des Journalisten Jan Heidtmann (2019). Zahlreiche digitalisierungskritische Werke zeigen, dass Bedenkenträger keineswegs als „Dummies“ abzutun sind. Angesichts der Gefährdungen der bürgerlichen Freiheit durch die Digitalisierung, namentlich durch forcierte „Künstliche Intelligenz“ und deren oft undurchschaubare Algorithmen, dürfen ihre Kritiker sowie Elektrosensible nicht pauschal als Technikfeinde verunglimpft werden. Erforderlich ist vielmehr differenziertes Hinsehen – und nicht zuletzt die Beachtung technischer Alternativvorschläge im Interesse einer von menschlicher statt künstlicher Intelligenz geprägten Kultur.
  10. Ich erinnere an die Resolution Nr. 1815 des Europarats (2011): Demnach sind alle zumutbaren Maßnahmen zu ergreifen, um die Exposition gegenüber elektromagnetischen Feldern zu verringern, insbesondere gegenüber hochfrequenten Wellen von Mobiltelefonen sowie die Exposition von Kindern und jungen Menschen, bei denen das Risiko von
    Gehirntumoren am größten zu sein scheint. Heute ist diese Forderung auszuweiten auf 5G. Dies hat Konsequenzen z.B. für die Ausgestaltung des zunehmend digitalisierten und verfunkten Autoverkehrs, auch für die künftig besser zu achtende Unverletzlichkeit der Wohnung (gem. Art. 13 GG), die nicht durch Funkzähler oder stetig funkende Rauchmelder zwangsausgestattet werden sollte.

Fazit

Strahlenschutz sollte nicht länger ein bloßes Lippenbekenntnis bleiben, sondern im Zuge eines sich verändernden Politikstils beim Klimawandel auch auf dem Mobilfunk-Sektor endlich unter Berücksichtigung der genannten neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse konsequenter umgesetzt werden. Angesichts des wissenschaftlich keineswegs auszuschließenden Schädigungspotenzials der künstlich gepulsten Hochfrequenz-Strahlung sollten sich künftig Unterlassungs- und Abwehransprüche, auch ggf. Schadensersatzansprüche juristisch durchsetzen lassen. Mit der Gesundheitsfrage geht es um ein zu hohes Gut, als dass das Vorsorgeprinzip auf diesem Sektor noch länger vernachlässigt werden dürfte.

Literatur bei der Redaktion abfragbar.

Prof. Dr. Werner ThiedeProf. Dr. Werner Thiede
apl. Professor für Systemische Theologie an der Universität Erlangen/Nürnberg, Pfarrer i.R., Autor
werner.thiede@web.de

Buch-Tipp
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Mythos Mobilfunk
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