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aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 5/2021

Tai Ji Quan

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Vollendete Körperkunst für mehr Gesundheit und Beweglichkeit

Singapur in den 1990er-Jahren. Durch den Jetlag um den Schlaf gebracht, wandere ich durch die Morgendämmerung einer Parkanlage. Noch herrscht feierliche Stille, kaum eine Menschenseele ist auf den Beinen. Ich beobachte, wie sich im Inneren einer kleinen, offenen Pagode eine Gestalt wie in Zeitlupe bewegt. Sie hebt die Arme und senkt sie wieder, sie dreht sich langsam um sich selbst und hebt anmutig ein Bein, um anschließend in langsam fließender Bewegung die Haltung zu verwandeln. Im frühen Licht des Morgens ist nur eine Silhouette erkennbar. Ich betrachte fasziniert die sanften Veränderungen. Die Bewegungen haben etwas Schwebendes, ja Leichtes, und sind dennoch präzise. Der Anblick fesselt mich. Sie wirkt auf mich wie aus einer anderen Zeit, als wäre ich ins alte China versetzt. Erst später wird mir bewusst, dass das meine erste Begegnung mit Tai Ji war. Meine Faszination für diese Körperkunst war geweckt.

Was ist Tai Ji?

Oft wird im Zusammenhang mit Tai Ji (syn. Taiqiquan oder Tai Chi Chuan) von Meditation in Bewegung gesprochen, was nur bedingt zutrifft. Es ist viel mehr als das. Tai Ji Quan ist eine alte, chinesische Bewegungsform, in der Kampf- und Verteidigungskünste, Gesundheitslehren und Meditation, mentale und körperliche Praktiken aus dem Taoismus sowie das Konzept von Yin und Yang eine Verschmelzung erfahren.
Tai Ji Quan wird in den chinesischen Schriftzeichen als 太极拳 geschrieben, welche einen gewissen Deutungsspielraum ermöglichen. Jedes Zeichen hat einen Bildcharakter und ist somit keine wortwörtliche Übersetzung. „Tai Ji“ kann „das Höchste, das Absolute oder das Namenlose“ bedeuten, das Zeichen „Quan“ steht für „Hand, Faust oder Boxen“. So kann man Tai Ji Quan übersetzen als „Die Fäuste (im Sinne der Verteidigungskunst) in höchster Vollendung einsetzen“ oder es „eine zur Perfektion hin entwickelte Körperkunst“ nennen, wobei die geistige Präsenz im Hier und Jetzt wesentlich zu dieser hohen Vollendung beiträgt.

Ursprünge

Es wird angenommen, dass der Begründer des Tai Ji Quan der daoistische Mönch Zhang Sanfeng war, der im 10. Jahrhundert in den chinesischen Wudang-Bergen gelebt haben soll. Es existieren zahlreiche Legenden über diese Person. Der Überlieferung nach war er ein gebildeter Beamter am Kaiserhof, der in späteren Jahren zum Mönch wurde.

Es waren unruhige Zeiten damals, Mönche mussten sich notgedrungen verteidigen können. So meditierte Zhang Sanfeng über eine Verteidigungsart, die den Prinzipien des Taoismus entsprechen sollte. Tugenden, wie z.B. Nachgiebigkeit und Weichheit, kombiniert mit Beweglichkeit und Geschmeidigkeit sollten in eine neue Verteidigungsform einfließen. Eines Tages erschien ihm in einem Traum ein himmlischer Geist, der ihn eine Kampftechnik für mehr Frieden und Harmonie in der Welt lehren wollte. Das klingt erst einmal paradox, ist aber eine gute Beschreibung für Tai Ji. Aus dem Traum erwachend und über ihn nachsinnend, machte sich der Mönch zu einem Spaziergang auf. Da entdeckte er einen Kranich, der eine Schlange attackierte. Der Kranich schoss immer wieder mit seinem scharfen Schnabel auf die Schlange zu, diese aber wich geschickt den Hieben aus, und schließlich gab der Kranich auf. Diese geschmeidigen Bewegungen der Schlange sollen Zhang Sanfeng zu Tai Ji inspiriert haben.

Formen und Stile

Offiziell ist der Chen-Stil der älteste, er geht auf den im 17. Jahrhundert in der Ming-Dynastie lebenden General Chen Wanting zurück. Dieser soll eine Art Selbstverteidigungstechnik für seine Soldaten gesucht haben. Weitere Elemente aus anderen Kampfkünsten ergänzten den neuen Kampfstil. Der Chen-Stil wurde innerhalb der Familie Chen weiterentwickelt und über Generationen weitergegeben. Aus ihm entwickelten sich später alle weiteren Stile: Sowohl der Wu-Stil als auch der Sun- oder der Yang-Stil sind nach ihren Begründern benannt und wurden als Familientradition weitergereicht.

Als Gesundheits- und Freizeitaktivität ist Tai Ji in Asien heute weit verbreitet und beliebt. Zumeist wird der Yang-Stil praktiziert. Bei uns wurde Tai Ji erst in den 1980er-Jahren bekannter, als ein etwa 10 Jahre vorher begonnener Trend aus den USA nach Europa getragen wurde. Dort hatte Zheng Manqing ältere Formen adaptiert, gekürzt und Tai Ji auf diese Weise außerhalb Chinas populär gemacht. So ist sein 37er-Yang-Stil eine der bekanntesten Formen im Westen. Eine weitere, sehr geläufige Form ist der 24er-Yang-Stil (Peking-Form), der sich durch seine alltagstaugliche Kürze auszeichnet. Er ist leicht zu erlernen und enthält alle Grundbewegungen des Yang-Stils.

Übungsabläufe

Der Übungsablauf des Tai Ji wird als Form bezeichnet. Jede Form besteht aus aufeinanderfolgenden einzelnen Figuren oder Bildern. Eine Form kann je nach Länge aus z.B. 24, 37, 48, 108 oder mehr Bildern bestehen. Man spricht je nach Länge und Dauer von einer Lang- oder Kurzform. Jedes Bild entspricht einer speziellen Körperhaltung oder Bewegung, die in ihrer Abfolge zu einer Choreografie, zur Form verschmelzen und ihr den unverwechselbaren Charakter verleihen. Oft tragen die einzelnen Figuren poetische Bezeichnungen (z.B. „Die Mähne des Wildpferds teilen“ oder „Der weiße Kranich breitet seine Flügel aus“), die den Inhalt einer Figur verdeutlichen. Es gibt die unterschiedlichsten Formen, auch solche, für deren Choreografie ein Gegenstand, z.B. ein Schwert, Fächer, Stock oder Speer, benötigt wird.

Prinzipien

Der Übende wird angehalten, eine Körperhaltung einzunehmen, die aufrecht und gleichzeitig ohne Anspannung ist. Die Gelenke werden leicht gebeugt, um den Qi-Fluss im Körper zu unterstützen. Die Wirbelsäule erfährt eine Ausrichtung zum Himmel und zur Erde.

Die Geisteshaltung ist aufmerksam entspannt, im gegenwärtigen Moment verweilend und lässt beim Ablauf der Übungen eine gelassene Selbstbeobachtung zu.

Die Bewegungen sind – je nach Stil und Form – dynamisch-kraftvoll oder sanft und harmonisch. Diese Eigenschaften können sich auch allesamt in einer Form wiederfinden und sich abwechseln.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Atmung – sie soll fließend in den unteren Bauch geleitet sein. Mit dem Atemrhythmus wird der Bewegungsablauf synchronisiert.

Grundhaltung

Wie man in die Übung „einsteigt“, hat Auswirkung auf den gesamten Ablauf. Der erste Schritt kann viel über die gesamte Reise aussagen. Deshalb ist die korrekte Grundhaltung, mit der man die Übung beginnt, nicht unerheblich:

Man startet, indem man sich in einen schulterbreiten Stand stellt. Die Füße sind parallel zueinander ausgerichtet. Füße, Fußsohlen und Zehen sind entspannt. Das Gewicht des Körpers ruht auf der ganzen Fußsohle gleichmäßig verteilt.

Die Beine sind leicht in den Knien gesenkt. Das Becken ist leicht angehoben, die Leisten etwas gebeugt. Das Steißbein zieht Richtung Erde.

Die Gelenke sind gelockert, das Kinn wird leicht gesenkt, die Arme hängen locker, die Schultern sind gesenkt und fallen leicht nach vorne. Das Brustbein ist etwas eingesunken, ohne dass ein Rundrücken entsteht.

Diese Haltung mag sich anfänglich etwas ungewöhnlich anfühlen, doch wird sie durch regelmäßiges Üben immer vertrauter.

Es wird im Tai Ji immer wieder die Natürlichkeit der Abläufe betont, daher sollten wir in der Grundhaltung keineswegs verkrampfen. Ein kurzes, abschließendes „Scannen“ des gesamten Körpers spürt diese Bereiche auf, korrigiert und lockert sie, bis sich ein entspanntes Wohlgefühl einstellt. Dazu trägt auch eine bewusste Atmung bei.

Zentrierung durch bewusste Atmung

Besonders Anfänger sollten viel Wert auf das bewusste Spüren der Atmung legen. Gewöhnlich wird der eigene Atem erst in der Anstrengung wahrgenommen oder bei einer starken emotionalen Reaktion. Im Tai Ji kommt der Impuls für das Aus- und Einatmen aus einem bewussten Beobachten der Pausen zwischen den Atemzügen. Dabei wird die Atmung gezielt in die Tiefe des Bauchraumes gelenkt, was automatisch zu einer tieferen Atmung führt, weil sich durch das stärkere Einbeziehen des Zwerchfells das Lungenvolumen ausdehnt.

Das bewusste Atmen führt auch zu einer besseren Zentrierung des Geistes. Langsameres und tieferes Atmen wirkt entspannend auf Körper und Geist. Ablenkende Gedanken verschwinden, wodurch sich eine gelassene Grundstimmung einstellt, die keiner Wertung oder Anstrengung bedarf.

Abschließend wird der Blick auf einen Punkt in der Ferne gerichtet.

Das anfängliche Beobachten von Körper und Atmung führt allmählich zu einer erhöhten Selbstwahrnehmung sowie einer tieferen und längeren Atmung, die sich ganz natürlich mit dem Übungsablauf synchronisiert.

Beweglichkeit bis ins hohe Alter

Übt man Tai Ji regelmäßig und unter Anleitung, steigern sich die physischen und mentalen Fähigkeiten. Atmung, Konzentration und Koordination werden verbessert und harmonisiert.

Wie in allen Gesundheitspraktiken, so ist auch bei Tai Ji eine gewisse Ausdauer und Geduld nötig, um die wohltuende Wirkung der fließenden Bewegungen zu erfahren. Der Anfänger ist meist mit der korrekten Abfolge einzelner Figuren beschäftigt, bevor dann mittel- und langfristig die eigentlichen Stärken des Tai Ji Quan erfahrbar werden. Ist man auf den Geschmack gekommen, ist Tai Ji eine Bewegungsform, die bis ins hohe Alte ausgeübt werden kann, was gerade in Asien dazu beigetragen hat, dass ältere Menschen noch eine hohe Beweglichkeit besitzen.

Indikationen und Blickwinkel der TCM

Nach der Vorstellung der Traditionellen Chinesischen Medizin wird durch das Üben von Tai Ji der Energiefluss in den Meridianen gefördert. Blockaden werden gelöst, das Qi harmonisiert. Unterversorgte Bereiche werden besser versorgt. Schmerzen, die eine Art Blockade des Qi darstellen, werden durch die sanften Bewegungen gelindert.

Durch die ganzheitliche Wirkung auf den Menschen ergibt sich eine Reihe an Indikationen:

  • Verdauungsbeschwerden
  • Stoffwechselerkrankungen
  • Chronische Kopfschmerzen, Migräne
  • Haltungsschäden und Beschwerden des Bewegungsapparates
  • Herz-Kreislauf-Probleme und Bluthochdruck
  • Stress und stressbedingten Symptome
  • Störungen des Nervensystems und psychosomatische Beschwerden

Fallstudie

Eine ältere Teilnehmerin in den Sechzigern interessiert sich für Tai Ji, nachdem sie eine Dokumentation über China gesehen hat, wo sich Senioren täglich im Park zum Tai Ji treffen. Da sie etwas gegen ihre Gangunsicherheit tun möchte, die besonders aus ihrer verminderten Beuge- und Streckfähigkeit in Hüfte und Knien resultiert, und sie außerdem unter einem chronischen Schulter-Syndrom mit eingeschränkter Rotation und Abduktion des rechten Armes leidet, fängt sie an, täglich kleine Übungen aus dem Tai Ji zu praktizieren. Dazu kommt der wöchentliche Besuch eines Tai Ji-Kurses.

Anfängliche Schwierigkeiten, Koordination und Abläufe zu erlernen, weichen einer steigenden Begeisterung für die Lernfähigkeit von Körper und Geist. Dabei ist eine umsichtige Begleitung durch erfahrenes Lehrpersonal unumgänglich, um eine Überforderung oder ein falsches Einlernen von Abläufen zu vermeiden.

Die Dame ist heute in den Siebzigern, übt fleißig ganze Formen in einer ihrem Alter angemessenen Weise und ist ihrer Aussage nach beweglicher denn je.

Fazit

Regelmäßig und ausdauernd geübt, hat Tai Ji Quan eine wohltuende Wirkung auf Körper und Geist. Geschmeidigkeit, Koordination und Beweglichkeit werden gefördert, Herz und Kreislauf gestärkt, Müdigkeit, Erschöpfungszustände und Stresssymptome reguliert.

Es bietet sich an, Tai Ji lebensbegleitend auszuüben, um das Wohlbefinden zu steigern und ein positives Körperbewusstsein zu schaffen, was in weiterer Folge die eigene Körper- und Geisteshaltung beeinflusst. Die philosophischen Hintergründe aus Taoismus und Chinesischer Medizin führen zu einem tieferen Verständnis für die natürlichen Zusammenhänge der Welt und zu mehr Selbsterkenntnis. Letztendlich ist Tai Ji ein Weg zu sich selbst.

Herbert RegenfelderHerbert Regenfelder
Heilpraktiker mit Schwerpunkt Traditionelle Chinesische Medizin, Dozent an den Paracelsus Schulen
qizen@posteo.de

Foto: © PheelingsMedia / adobe.stock.com, © auremar / adobe.stock.com

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