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aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 2/1998

Alexander-Technik

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Harmonie für Körper, Seele, Geist

In allem, was wir tun, zeigt sich eine persönliche Qualität der Bewegung und des Ausdrucks. Es ist die Art, wie wir eine Tür öffnen, jemandem die Hand schütteln, schreiben, sprechen oder lachen. Was aber genau tun wir mit uns, wenn wir etwas tun? Welche Auswirkung hat diese Art, uns zu “gebrauchen”, auf ihren Urheber – uns selbst? Vieles an der Art, wie wir mit uns im Alltag umgehen, entgeht unserer Aufmerksamkeit. Nur manchmal rückt der verborgene Nebeneffekt unseres Tuns schmerzhaft ins Bewußtsein. Wir ziehen vielleicht die Schultern hoch und versteifen den Brustkorb, wenn wir etwas schreiben. Oder wir fühlen uns schnell erschöpft, sobald wir am Schreibtisch sitzen.

Die Alexander-Technik,vor gut hundert Jahren vom australischen Schauspieler F.M.Alexander (1869-1955) entwickelt, bietet einen einzigartigen Zugang zu diesem bislang vernachlässigten Faktor in Gesundheit, Erziehung und Lebensführung: dem Gebrauch des Selbst. Die Art wie wir mit uns umgehen, übt einen konstanten, oft unbemerkten Einfluß auf alle Lebensbereiche aus: auf Gesundheit und Wohlbefinden, auf Effektivität und Kreativität unseres Handelns.

r9802_at1 Das Einzelne in Beziehung zum Ganzen

Die Schwierigkeiten derjenigen, die einen Lehrer der Alexander-Technik aufsuchen, sind sehr unterschiedlich. Die Krankenschwester, die beim Heben der Patienten Rückenschmerzen bekommt; der Sachbearbeiter, den während der Arbeit starke Kopfschmerzen überfallen; der Musiker, dessen Gelenke beim Spielen wehtun; der Student, der sich nicht auf seine Arbeit konzentrieren kann; oder die Erzieherin, die sich inmitten der Gruppe unter Druck gesetzt fühlt – mal ist ein körperliches Symptom der Anstoß, mal eine schwer zu definierende Beeinträchtigung gedanklicher oder psychischer Prozesse.

Der Alexander-Lehrer beobachtet zunächst, wie eine Person sich gebraucht. Die gegenwärtige Situation – im Unterricht meist einfache, alltägliche Aktivitäten wie Sitzen, Laufen, Liegen etc. – zeigt den Gebrauch “in Aktion”. Jede Aktivität ist weder rein “körperlich” noch rein “geistig”, sondern ein Prozess, in dem wir Körper und Bewußtsein zu einem mehr oder weniger gut funktionierenden Ganzen koordinieren. Der Schlüssel zu einer spezifischen Störung liegt also darin, herauszufinden, ob im “körperlich-geistigen” Gesamtablauf einer Aktivität konflikthafte Elemente eingeflochten sind. Und die Suche beginnt ganz oben – beim Kopf.

Die Balance des Kopfes auf der Wirbelsäule

Der Kopf ist ein relativ großer, schwerer Körperteil, gemessen an der schmalen Gelenkfläche des Atlas, auf der er balanciert wird. Wie wir den Kopf auf der Wirbelsäule balancieren, wirkt sich unmittelbar auf die Koordination des gesamten Körpers aus. Wird der Kopf nämlich durch zu starke Anspannung in der Halsmuskulatur nach unten gezogen, staucht er die Wirbelsäule und zwingt den Körper in eine Kettenreaktion, in deren Verlauf sich Rumpf und Gliedmaßen zueinander “verkeilen”. Es ist so, als würde eine Druckwelle durch den Körper laufen, die für jeden Bereich spezifische Nachteile bringt – für die Gelenke und Wirbel übermäßigen Druck, für die Muskeln eine falsche Verteilung der Spannung und für die gesamte Bewegung den Verlust an Koordination und Leichtigkeit.

Gelingt es jedoch, den Kopf frei oben zu balancieren, wird sich der Rücken ausdehnen können. Diese Ausdehnung ist keine direkte Streckung, sondern eine indirekte Dehnungsreaktion der Muskeln auf die Schwerkraft. Da das Dehnen reflektorisch geschieht, registriert das Bewußtsein kein direktes Tun, sondern eine Aktivität, die “von selbst geschieht”. Sich ausdehnend bietet die Wirbelsäule dem Skelett eine stabile und gleichzeitig bewegliche Orientierungsachse.

Willkürliche Bewegungen können sich nun mühelos zu einem Gesamtmuster integrieren, ohne unwillkürliche Abläufe im Körper zu stören, etwa Atmung, Blutkreislauf und Verdauung. Indirekt wird die Balance des Kopfes auf der Wirbelsäule so zu einem primären Kontrollmechanismus, durch den sich der Mensch auf effektive Weise im Feld der Schwerkraft ausrichten kann.

Durch Berührung am Hals kann ein Alexander-Lehrer diese Balance wahrnehmen und in ihren Auswirkungen auf den Gebrauch einschätzen. Was er spürt, vermittelt ihm ein sensorisches Bild darüber, wie die einzelnen Körperteile interagieren. Der Energiefluß gibt Aufschluß über die falschen Spannungsmuster, die den Körper “im Griff” haben. Wenn der Kopf etwa nach hinten und unten gezogen wird, läßt sich das Spannungsmuster, das von den verspannten Halsmuskeln ausgeht, im Schultergürtel und den Rücken hinab bis in Beine und Füße erspüren.

Gedankliche Ausrichtung

Der Alexander-Lehrer gewinnt jedoch nicht nur einen Eindruck von der körperlichen Koordination. Er wird die gedankliche Ausrichtung beobachten, die den Schüler beeinflußt, sobald er sich entschließt, etwas zu tun, z.B. eine Bewegung auszuführen. Diese Ausrichtung ist unmittelbar vor der geplanten Aktion in einer subtilen Veränderung des Muskeltonus zu spüren, manchmal auch zu sehen, etwa an den Augen oder am Gesichtsausdruck.
So kann man vielen Menschen kurz vor dem Aufstehen ansehen, daß sie im Begriff sind, etwas Anstrengendes zu tun. Sie “wissen” bereits, daß die Aktion anstrengend wird, bevor sie beginnt, und sie stellen sich darauf ein, indem sie die Muskeln anspannen. Die Vorstellung, die wir von einer Handlung haben, lenkt die Art, wie wir sie ausführen.

Physiologisch handelt es sich bei der gedanklichen Ausrichtung um Impulse, die vom Gehirn an die Muskeln geschickt werden. Zweierlei Impulse stehen zur Wahl: solche, die Muskeln anregen (Tun), und solche, die Muskeln hemmen (Nicht-Tun). Jede Aktivität entsteht aus einem komplexen Muster anregender und hemmender Impulse. Die Freiheit des Bewußtseins liegt darin, Anregen oder Hemmen, und beides je nach Situation angemessen kombinieren zu können.

Ein Beispiel: Wenn wir stehen, brauchen wir im Rumpf und in den Beinen eine gewisse Spannung, in den Armen hingegen nicht. Wenn man den Arm einer stehenden Person anhebt und versucht, ihn ohne deren Mitwirkung zu bewegen, stellt man jedoch oft fest, daß die Muskeln des Schultergürtels und der Arme gar nicht loslassen. Die Anweisung, hier loszulassen, während dort Spannung erhalten bleibt, kann offensichtlich vom Bewußtsein nicht angemessen übermittelt werden.
Die Ursache für diese Unfähigkeit besteht darin, daß wir längst keine genauen sensorischen Informationen mehr über das erhalten, was im Körper vor sich geht. Unser instinktives Körpergefühl ist trügerisch, weil falscher Gebrauch die propriozeptiven Mechanismen des Körpers behindert. Auf der Grundlage verzerrter Empfindungen über uns selbst (Erfahrung) entwickeln wir irreführende Ideen (Konzepte) über die Art, wie wir eine Handlung effektiv ausführen können, so daß wir diese Handlung dann falsch ausführen. Es ist ein geschlossener Kreislauf: “Erfahrung bedingt Konzept bedingt Erfahrung.” Um den Weg für Veränderung freizumachen, müssen wir den Kreislauf unterbrechen – indem wir “nein” sagen.

Das konstruktive Nein

Der erste Schritt der Veränderung ist nicht, das vermeintlich Richtige zu tun, sondern – das Falsche zu lassen. ,,Vermeide, was du bisher getan hast, und du hast es zur Hälfte geschafft,” bemerkte Alexander dazu. Die allermeisten Menschen finden es enorm schwierig, auf einen Reiz nicht sofort zu reagieren und zunächst “nein” zu sagen. Wir scheinen unter einer dauernden Aktionsspannung zu stehen, aber nicht deswegen, weil wir unserer Natur gemäß nicht anders könnten, sondern weil wir verlernt haben, innezuhalten und bestimmte Dinge zu unterlassen.

Unbewußte Gewohnheiten laufen en bloc ab, d.h. wir können einzelne Elemente nicht mehr kontrollieren, sobald wir “ja” zu dem gewohnten Tun gesagt haben. Jedesmal, wenn wir den gewohnten Mechanismus unbedacht in Gang setzen, verschenken wir eine Chance. Statt der Gewohnheit zu gehorchen, könnten wir innehalten, um uns bewußt für einen günstigeren Umgang mit uns selbst zu entscheiden.

Die neue Erfahrung

Erst wenn die gewohnte Reaktion aufgehalten ist, kann die bewußte Ausrichtung in uns Raum greifen. Der Lehrer führt mit seinen Händen den Schüler durch ein paar einfache Bewegungen und erläutert dabei die Ausrichtung des Kopfes auf der Wirbelsäule und die Beziehung der Arme und Beine zum Rücken. Berührung und Worte vermitteln eine neue sensorische Qualität, die sich deutlich vom gewohnten Körpergefühl abhebt.

Diese Bewegungen lösen meist ein Aha-Erlebnis aus. Eine Handlung, die zuvor noch Anstrengung gekostet hat, scheint nun “irgendwie anders”. Die Bewegung ist müheloser, fließender und geordneter. Gleichzeitig ist das Bewußtsein wie befreit von einer Last. Denken und Fühlen “atmen auf”. Oft sind die Menschen erstaunt, mit welcher Unbeschwertheit sie wahrnehmen und handeln können.

Wiederholte Erfahrungen dieser Art erlauben es dem Schüler, seine gewohnte Ausrichtung zu überdenken und neue Leitgedanken zu entwickeln. Mit der Zeit baut sich ein zugleich körperliches und geistiges Verständnis für den bewußten Gebrauch seiner selbst auf. Verschiedenste Schmerzsymptome und Verspannungen lösen sich in dem Maße auf,wie dieser neue Gebrauch die unbewußte Fehlorientierung ablöst.

Es ist nichts verkehrt an uns…

…außer dem, was wir selber durcheinanderbringen” sagte Alexander einmal. Die Alexander-Technik gibt uns ein Werkzeug der Selbsterforschung und Veränderung an die Hand. Sie zeigt uns, wie wir unser Durcheinander wahrnehmen, verstehen und loslassen können. Unser Wunsch nach Gesundheit und persönlicher Entwicklung erfährt eine neue Richtung. Wir sind zu weitaus mehr fähig, als wir denken, sobald wir das, was uns behindert, beiseite lassen.

Guido Ingendaay ist qualifizierter Lehrer der F M. Alexander-Technik; er lebt und arbeitet in Stuttgart.

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