aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 4/2020
Karpaltunnel, oder?
Die osteopathische Sicht auf das Kompressionssyndrom
Die Hand schläft ein, sie kribbelt, ist kraftlos, einzelne Finger sind taub. Beinahe alles wurde schon versucht, um Abhilfe zu schaffen, aber nichts hat gewirkt. Die Folge sind häufig Arbeitsausfälle bis hin zur Berufsunfähigkeit. In der osteopathischen Praxis stellen sich Patienten mit diagnostiziertem Karpaltunnelsyndrom oft erst nach einem langen Leidensweg vor. Sie haben viele erfolglose Therapieversuche hinter sich. Da ihnen als letzte Option die operative „Entlastung“ des Karpaltunnels droht, ist der Gang zum Osteopathen oft der einzig verbleibende Hoffnungsschimmer. Der Erwartungsdruck dem Therapeuten gegenüber ist sehr hoch.
Grund genug, die osteopathische Sicht auf die Kompression des N. medianus zu beleuchten, deren häufigste pathologische Erscheinungsform das Karpaltunnelsyndrom ist. Sinn dieses Artikels ist nicht, Standardrezepte für Diagnose und Behandlung vorzugeben, denn getreu dem osteopathischen Prinzip „Der Patient, nicht die Krankheit“ ist jeder Mensch einzigartig. Vielmehr ist das Ziel, ein Verständnis dafür zu erzeugen, wie es zur Beeinträchtigung des Medianus-Nervs kommen kann. Außerdem werden mögliche Herangehensweisen aus osteopathischer Sicht aufgezeigt.
Ein Syndrom stellt sich vor
Das Karpaltunnelsyndrom (KTS) ist nur eine Ausprägung, jedoch die am häufigsten vorkommende Form des Medianus-Kompressionssyndroms. Bei diesem geht es darum, dass Druck auf den N. medianus ausgeübt wird, im Falle des KTS geschieht dies im Karpaltunnel. Als Folge treten zu Beginn der Erkrankung (v.a. nachts) Kribbelparästhesien und Dysästhesien der Finger 1-3 auf. Da der Medianus-Nerv den M. opponens pollicis versorgt, kommt es im weiteren Verlauf zu dessen funktioneller Schwäche bis Atrophie. Aufgrund seiner Zuständigkeit für die Oppositionsstellung des Daumens zu den Fingern entwickelt der Patient große Probleme, runde Gegenstände zu greifen, besonders morgens. Dies zeigt sich auch in einem positiven Flaschenzeichen. Die Beschwerden verschlimmern sich durch Tätigkeiten, die Druck auf den Kanal ausüben; z.B. das Greifen des Autolenkrades, eines Fahrradlenkers oder das Auswringen eines Putzlappens.
Schulmedizin und KTS
Allgemein betrachtet beruht der Schädigungsmechanismus des N. medianus im Karpaltunnel auf zwei Mechanismen: der Kompression des Nervs selbst und/oder der vaskulären Strukturen, die den Nerv versorgen. Beides führt zur Herabsetzung der Nervenleitgeschwindigkeit. Wie aber entsteht diese Komprimierung? In der Literatur wird darauf verwiesen, dass sie in den meisten Fällen idiopathisch, also ohne erkennbaren Grund, geschieht. Trotz dieses wenig erhellenden Sachverhalts können zwei Entstehungsprinzipien abgeleitet werden:
- Verkleinerung des Tunnels (z.B. durch Tumore, Ganglien, Frakturen, Luxationen)
- Vergrößerung des Tunnelinhalts (z.B. durch Tendovaginitis, aufgeschwollene Sehnen, infolge von Rheuma oder Hypothyreose)
Als generelle Risikofaktoren für die Entstehung eines KTS gelten wiederholte Tätigkeiten des Handgelenks in Flexion oder Extension, aber auch Übergewicht, Schwangerschaft und kürzlich eingetretene Menopause. Letztere sind Hauptgründe dafür, warum in der Literatur ein vermehrtes Auftreten des KTS bei Frauen dokumentiert ist.
Wenn sich beim Arztbesuch nach Schilderung typischer Symptome ein Verdacht auf KTS ergibt, werden im nächsten Schritt Funktionstests ausgeführt: Hierfür bieten sich das Flaschenzeichen, der Phalen-Test, das Hoffmann-Tinel-Zeichen und der Durkan-Test an. Erhärtet sich der Verdacht, erfolgt die Messung der Nervenleitgeschwindigkeit am Handgelenk im Seitenvergleich zum Nachweis des KTS.
Therapiert wird zunächst mit konservativen Mitteln. Dabei kommen lokale Injektionen mit Kortikosteroiden, Krankengymnastik, nächtliche Ruhigstellung mittels Handgelenkschiene und Ultraschallverfahren zum Einsatz. Helfen all diese Mittel nicht, ist der letzte Schritt eine ambulante OP. Hier wird das den Kanal überspannende, bindegewebige Band (Retinaculum flexorum) endoskopisch oder in offener OP gespalten. Aus Sicht der Schulmedizin ist dies die wirksamste Therapiemethode. Das Zerschneiden des Bandes sollte jedoch die wirklich allerletzte Option sein. Etwas zu zerstören, das die Natur sinnhafterweise so vorgesehen hat, ist mit meinem Selbstverständnis als Osteopath nicht vereinbar.
Anatomie als Schlüssel
„Osteopathie ist erstens Anatomie, zweitens Anatomie und drittens Anatomie!“ (Dr. Andrew Taylor Still)
Dieser Satz des Begründers der Osteopathie macht deutlich, welchen Stellenwert die präzise Kenntnis der anatomischen Verhältnisse im Körper hat. Sie ist Basis für das Verständnis einer Dysfunktion, deren Diagnostik und Behandlung. Wenden wir uns also dem Verlauf des N. medianus bzw. seiner Ursprungsfasern zu. Dazu betrachten wir die anatomischen Beziehungen an neuralgischen Punkten entlang seines Ausbreitungsgebiets:
Wirbelsäule
Die Nervenfasern, die in ihrem Verlauf den sensibel-motorischen N. medianus bilden, haben ihren Ursprung in den Rückenmarkssegmenten C6-Th1.
Hals
Im seitlichen Halsbereich vereinigen sich die aus dem Rückenmark kommenden Spinalnerven zum Plexus brachialis, der gemeinsam mit der A. subclavia durch die hintere Skalenuslücke (aus M. scalenus anterior, M. scalenus medius und erster Rippe) zieht. Anschließend taucht der Plexus dorsal der Clavicula unter dem M. pectoralis minor hindurch zur Achsel.
Achsel
Hier entsteht der N. medianus. Er geht aus der Medianusgabel hervor, die im Bereich des Unterrandes des M. pectoralis minor liegt. Die Gabel wird durch die Vereinigung der beiden Nervenwurzeln (Radix medialis und lateralis) geformt, die aus den Fasciculi medialis bzw. lateralis des Plexus brachialis pars infraclavicularis hervorgehen. Im weiteren Verlauf zieht er oberflächlich von der A. axillaris den Oberarm entlang nach proximal.
Oberarm
Im medialen Oberarm verläuft er oberhalb der A. brachialis in der medialen Bizepsrinne (Sulcus bicipitalis medialis) zur Ellenbeuge. Als Begrenzungen dieser Rinne dienen die Mm. biceps und triceps brachii sowie das Septum intermusculare brachiale mediale.
Ellenbeuge
Im Bereich der Ellenbeuge zieht er unter der Aponeurosis musculi bicipitis (Lacertus fibrosus) zum Unterarm. Dabei handelt es sich um eine Nebensehne des M. biceps brachii, die oberflächlich nach ulnar in die Unterarmfaszie (Fascia antebrachii) einstrahlt.
Unterarm
Hier verläuft er weiter zwischen den beiden Köpfen des M. pronator teres hindurch Richtung Handgelenk.
Handgelenk
Durch den Karpaltunnel (Canalis carpi) geht er weiter in die Hohlhand. Den Boden dieses Kanals bilden die bogenförmig angeordneten Handwurzelknochen. Das Dach in Form des Retinaculum musculorum flexorum (Lig. carpi transversum) wird wie eine Plane durch vier Pfeiler quer über das Handgelenk aufgespannt: ulnar durch das Os pisiforme und den Hamulus ossis hamati, radial durch das Tuberculum ossis scaphoidei und das Tuberculum ossis trapezii.
Betrachtet man den Kanal im Querschnitt, wird deutlich, dass es sich um zwei Fächer handelt, die durch ein Bindegewebsseptum voneinander getrennt sind: ein kleines Nebenfach mit der Sehne des M. flexor carpi radialis sowie das ulnar gelegene Hauptfach mit dem N. medianus und den restlichen neun Beugersehnen. Summa summarum verlaufen durch den Kanal also der Nerv und insgesamt zehn Beugersehnen, jeweils umhüllt von Sehnenscheiden und eingebettet in Bindegewebe. Es ist gut vorstellbar, dass es für den Nerv hier sehr schnell eng werden kann.
Hohlhand
In der Hohlhand angekommen, erfolgt die Aufteilung in seine motorischen und sensiblen Endäste.
Die Suche nach der primären Dysfunktion
Getreu dem Grundsatz „Der Körper ist eine Einheit“ interessiert uns bei der Diagnosefindung nicht nur das lokale Problem. Als Osteopathen wollen wir den Dingen auf den Grund gehen und beziehen daher den ganzen Körper mit ein. Neben der allgemeinen osteopathischen Untersuchung sollte bei Verdacht auf ein Medianus-Kompressionssyndrom unsere Aufmerksamkeit folgenden Punkten gelten:
Wirbelsäule
Wirbelblockaden und Subluxationen können eine Rolle spielen. Besonderes Augenmerk gilt den Wirbelgelenken der Ursprungssegmente des Nervs: C6-Th1. Auch der Bereich von Th2-Th8 ist aufgrund der sympathischen Versorgung der oberen Extremität interessant. Es ist ratsam, auch die entsprechenden Costovertebralgelenke auf Bewegungsfreiheit zu prüfen. Zu beachten ist, dass die genannten Wirbelsäulensegmente durch Störungen der sympathisch verbundenen Organe in Dysfunktion gebracht werden können.
Hals
Ein großer Einflussfaktor ist das Thoracicoutlet-Syndrom (TOS). Klassischerweise kann es dabei an drei neuralgischen Punkten zur Komprimierung des Plexus brachialis und damit zu Auswirkungen auf den N. medianus kommen:
• Hintere Skalenuslücke Ob eine Dysfunktion vorliegt, kann über den Adson-Test geklärt werden.
• Kostoklavikulär Zwischen der Clavicula und der ersten Rippe. Ein positiver Eden-Test zeigt eine Dysfunktion in diesem Bereich an.
• Korakopektoral Unterhalb des M. pectoralis minor. Der Wright-Test kann Klarheit bringen.
Neben diesen klassischen Komprimierungsstellen sollte auch der vorderen Skalenuslücke, die vom M. sternocleidomastoideus und dem M. scalenus anterior begrenzt wird, Beachtung geschenkt werden. Gerade ersterer reagiert sehr empfindlich auf Stress und ist oft verspannt. Eine Verengung dieser Lücke kann die durchziehenden Strukturen V. subclavia, N. phrenicus und Lymphgefäße beeinträchtigen. Beispielsweise ist dadurch ein venolymphatischer Rückstau in die obere Extremität möglich, der die Gewebe anschwellen lässt. An der Engstelle Karpaltunnel führt dies dazu, dass vermehrter Druck auf den Nerv entsteht, seine Versorgung beeinträchtigt wird und so die Nervenleitgeschwindigkeit sinkt. Eine operative Entlastung könnte dann nur kurzfristige Verbesserung bringen, da die primäre Ursache nicht im Karpaltunnel liegt.
An mögliche Fernwirkungen aus dem abdominellen Bereich ist stets zu denken. Hier kommen bei Symptomen an der rechten Hand v.a. Störungen von Leber und Gallenblase in Frage. Bei Beschwerden an der linken Hand sollte man den Blick auf Magen und Herz bzw. Perikard richten. Da diese Organe Verbindung zum N. phrenicus (C3-C5) haben, führen ihre (osteopathischen) Dysfunktionen zu vermehrten Afferenzen Richtung Thoracic outlet. Es kommt zur Tonussteigerung in den Muskeln, die aus denselben Rückenmarkssegmenten versorgt werden. Hier sind v.a. der M. subclavius und die Mm. scaleni zu nennen. Mittels viszeraler Diagnostik sind die entsprechenden Organe auf Dysfunktionen, wie z.B. Spasmus oder Adhäsionen, zu untersuchen.
Des Weiteren kann das Abdomen das Thoracic outlet via fasziale Ketten beeinflussen, z.B. über den Zug durch eine verwachsene, verklebte Kaiserschnittnarbe. Über die Kette M. rectus abdominis und Fascia sternalis kann dies die Clavicula nach kaudal fixieren und zu einer costoclaviculären Komprimierung führen. Mögliche Auswirkungen auf benachbarte Gelenke sollten überprüft werden (Sternoclavicular-, Acromioclavicular- und Thoracoscapulargelenk).
Ellenbeuge
Hier ist an eine Komprimierung des N. medianus unter der Aponeurosis musculi bicipitis zu denken. Da die Aponeurose entsprechend der myofaszialen Ketten nach Myers eine Verbindung zwischen der oberflächlichen frontalen Armlinie und der tiefen frontalen Armlinie herstellt, sind diese zu testen. Als Dysfunktionen kommen muskulärer Hypertonus, fasziale Verklebungen und Triggerpunkte in Frage.
Unterarm
In diesem Bereich kann v.a. der M. pronator teres den Nerv komprimieren. Das nach diesem Muskel benannte Syndrom entsteht durch Komprimierung des Nervs zwischen den beiden Muskelköpfen.
Karpaltunnel
Neben den bereits beschriebenen Verursachern von Komprimierungen kommen ebenso Blockaden der Handwurzelknochen, allen voran des Os lunatum, in Frage. Aber auch an eine Subluxation des Discus triangularis ist zu denken. Beide können ihre Ursache bei Grifftechniken bestimmter Sportarten haben (z.B. Radlenker, Schläger).
Fazit
Einflüsse aus unterschiedlichsten Körperregionen können zu einem KTS-Symptombild führen. Die herausragenden Stärken der Osteopathie – angewandte Anatomie und spezielle Diagnostik – können hier besonders zum Tragen kommen und Licht ins Dunkel bringen. Nur ein sehr detailliertes Verständnis über den Ursprung der jeweiligen Dysfunktion bringt gute Behandlungsergebnisse hervor.
Die osteopathische Intervention schließlich, deren Hauptziel es ist, die Adaptionsfähigkeit des Körpers wieder herzustellen, kann bei einem Medianus-Kompressionssyndrom hervorragende Behandlungsergebnisse erzielen. Selbstverständlich nur unter der Voraussetzung, dass der Patient eigenverantwortlich dazu beiträgt, indem er regelmäßige Übungen in seinen Alltag integriert und schädliche Gewohnheiten abstellt.
Ist dies gegeben, können mit den Mitteln der Osteopathie Leidenswege verkürzt, viele Operationen vermieden und dem Gesundheitssystem hohe Kosten erspart werden.
Alexander Hofbeck
Dipl.-Ing. (FH), Heilpraktiker mit Schwerpunkt Osteopathie,
Selbstführungscoach, Personal Trainer, Autor
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