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aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 1/2022

Pflanzenmärchen – Teil 2

Cover

Die Zitterpappel und das, was kommen wird

In der zweiten Folge unserer Serie geht es um die Heldenreise eines Jungen, dem sich eine neue Fähigkeit offenbart, die sich zunächst als unbestimmte, bedrückende Empfindung zeigt.

Vom Abschied hin zum Neuanfang

Es war einmal vor vielen, vielen Jahren, da lebte in einem kleinen Dorf an der Küste ein 12-jähriger Junge. Er hieß Karl und war der Sohn des Schamanen. Karl war ein zu allerlei Schabernack aufgelegter Junge, und obwohl so mancher im Dorf unter seinen Streichen zu leiden hatte, mochten ihn alle. Seine Späße waren viel zu lustig, um ihm lange böse zu sein. Er streifte am liebsten mit seinen Freunden durch die nahegelegenen Kiefernwälder oder spielte am Strand. Kurz und gut, das Leben von Karl war so glücklich, wie man es sich nur vorstellen konnte. Zumindest war es das bis zu jenem denkwürdigen Ereignis, das sein Leben veränderte. Nicht, dass sein Leben danach schlechter gewesen wäre. Nun, es wurde einfach anders. Alles begann an einem sehr stürmischen Tag:

Ein unbekanntes Gefühl

Seit einiger Zeit wehte ein starker Wind, und Karl musste an den letzten beiden, besonders stürmischen Tagen zuhause bleiben. Während dieser Zeit hatte er ein Gefühl, das er bisher nicht kannte. Zuerst dachte er, es läge daran, dass er nicht wie gewohnt mit seinen Freunden im Wald spielen durfte. Doch das seltsame Gefühl blieb auch in den nächsten Wochen. Besonders stark war es abends und morgens. Es dauerte eine Weile, bis er Worte für das Gefühl fand. Es war „Angst“. Jetzt erschien es ihm komisch, dass er in den vergangenen 12 Jahren seines Lebens noch nie Angst verspürt hatte. Doch jetzt hatte er Angst, ganz ohne Grund.

Besuch in stürmischen Zeiten

Als der Wind zu orkanartiger Stärke angeschwollen war, versammelten sich alle Dorfbewohner im Gemeinschaftshaus, das im Windschatten des Kiefernwaldes stand, und dessen Dach sich in eine Erdmulde schmiegte. So konnte ihm der Wind weniger anhaben.

Gegen Mittag erschien eine Gruppe Reiter, und die Dorfbewohner eilten hinaus, um zu sehen, wer da angekommen war. Es war ein Dutzend Krieger, mit Schwertern bewaffnet. Ihr Anführer, ein großer, kräftiger Mann, trug auf seinem Kopf eine Mischung aus der Krone eines Königs und einem Helm, mit dem sich die Krieger schützen. Just in dem Moment, als der Anführer seine Helm-Krone absetzte, endete der Orkan, und der Wind blies nur noch leicht und strich zart über die Haut.

Der Anführer und Karls Großvater, der unter den Dorfbewohnern war, begrüßten sich herzlich. Alsdann gingen alle ins Gemeinschaftshaus, nur die Kinder und Jugendlichen mussten draußen bleiben. Lautes Reden und Lachen drang aus dem Gebäude. Dass er nicht mit hinein durfte, fand Karl unfair, denn er war sehr neugierig, wer die fremden Männer wohl waren. Außerdem nervten ihn die älteren Mädchen aus dem Dorf, denn sie kicherten in einem fort. Wahrscheinlich wegen der Krieger. Karl fand das albern.

Die Krieger und ihr Anführer blieben einige Tage im Dorf. Es war eine schöne Zeit. Es gab Köstlichkeiten zu essen, es wurde getanzt, gelacht, und abends wurden Geschichten erzählt. Karl genoss die Zeit, aber er spürte auch die Angst, die ihn immer wieder ergriff.

Verständnis und Hilfe

Aufmerksam und konzentriert hörte sein Vater zu, als Karl ihm schließlich von seiner Angst erzählte. Dann sprach er zu Karl: „Deine Angst ist ein Zeichen für deine Empfindsamkeit. Die Fähigkeit der Ahnung drängt in dein Leben, und das bereitet dir Angst. Es ist die Ahnung von Dingen, die kommen werden. Aber sei beruhigt, es gibt eine Pflanze, die dir helfen kann, damit deine Angst nicht zu groß wird: Die Zitterpappel.“

So ganz verstand Karl die Worte seines Vaters nicht. Aber seine Neugierde war geweckt. Karl mochte Bäume. Doch als er darüber nachdachte, wie die Zitterpappel wohl aussähe, stellte er fest, dass er eigentlich nur einen Baum kannte: Die Kiefer. Karls Dorf lag am Meer. Der Strand aus allerfeinstem, weißem Sand türmte sich zum Landesinneren hin zu riesigen Sanddünen auf. Darauf und weiter landeinwärts wuchsen große Kiefernwälder. Diese waren es, die das Dorf umgaben; und diese Kiefernwälder waren es, in denen er mit seinen Freunden spielte.

Ein neuer Freund

„Komm, ich zeige dir die Zitterpappel“, sprach Karls Vater. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zum Südrand des Kiefernwaldes. Hier wuchsen besonders viele Zitterpappeln. „Setz dich, wann immer du Zeit hast, unter eine von ihnen, und lasse das Zittern ihrer Blätter auf dich wirken. Dann wird deine Angst weniger werden. So wie die Zitterpappeln, nachdem ein Wald zerstört wurde, als Erste wieder keimen, wachsen und einen neuen Wald begründen, so stehen die Zitterpappeln für alles Neue, ebenso für die Ahnung, was kommen wird.“

Von nun an verbrachte Karl viele Stunden unter diesen Bäumen. Besonders liebte er es, wenn der Wind sanft wehte und die Zitterpappeln mit ihren Blättern musizierten. Jeden Tag lernte er die Bäume besser kennen. Er berührte ihre Blätter, strich über ihren Stamm, roch ihren Duft, spürte ihre Nähe, erfasste ihr Wesen. Die Angst, die er vor einiger Zeit noch verspürt hatte, war inzwischen verschwunden.

Der letzte Ritt

Als die Krieger nach einiger Zeit aufbrachen, war Karl überrascht, dass ihr Anführer nicht mit ihnen ritt, sondern stattdessen sein Großvater auf das Pferd stieg. Er winkte den Dorfbewohnern zu, setzte die Helm-Krone des Anführers auf und ritt mit den Kriegern davon.

Sofort brach wieder ein orkanartiger Wind los. Karl musste lachen, als er merkte, dass er sich wegen des Windes um die Zitterpappeln sorgte. Seine Freunde würden ihn für verrückt erklären, wenn er ihnen erzählte, dass er Angst um Bäume hatte.

Während der nächsten Wochen wurde der Wind aber jeden Tag wieder etwas weniger, bis er ganz zur Ruhe kam. Als es windstill geworden war, verspürte Karl große Trauer, denn er wusste: Das hatte mit seinem Großvater zu tun.

Nach einiger Zeit begann der Wind, wieder stärker zu werden. Ganz langsam, jeden Tag etwas mehr, bis der Wind wieder Orkanstärke angenommen hatte. Genau an diesem Tag erschienen wieder gegen Mittag die Krieger. Aber Karls Großvater saß nicht auf dem Pferd, sondern lag tot auf einer Bahre, die von dem Tier gezogen wurde. Als man die Helm-Krone von seinem Kopf nahm, endete der Orkan. Der Wind blies nur noch leicht und strich zart über die Haut. Es war eine Zeit der Trauer und des Abschieds, aber auch der Freude. Es wurde geweint und gelacht, getanzt und gesungen.

Nach der Bestattung des Großvaters machten die Krieger sich wieder auf den Weg. Sie sattelten ihre Pferde und stiegen auf. Als der Anführer den Helm aufsetzte, begann der Wind sofort in Orkanstärke zu tosen. Und wieder wurde er in den Wochen danach jeden Tag etwas weniger, bis er ganz aufhörte.

In dieser Zeit der Windstille saß Karl mit seinem Vater unter einer der Zitterpappeln. Sie saßen still, nichts musste gesagt werden. Karl hatte verstanden, und er war froh und glücklich, seinen Vater zu haben.

Erläuterung zur Zitterpappel

Die Zitterpappel (Populus tremula) wächst häufig auf Waldlichtungen, am Waldrand oder auf Feldholzinseln. Sie gehört zu den Pioniergehölzen und bedeckt, ähnlich wie die Birke oder der Holunder, rasch offene Flächen, z.B. nach Sturmschäden. Sie ist sehr lichtbedürftig und eher kurzlebig (60-80 Jahre). Daher wird sie im Zuge der Waldbildung später von den langlebigen Bäumen wie der Buche oder der Eiche verdrängt.

Die größte Besonderheit der Zitterpappel sind ihre Blätter. Diese haben einen langen und seitlich abgeflachten Blattstiel, daher sind sie äußerst windempfindlich. Mit großer Sensibilität reagiert die Zitterpappel (auch Espe genannt) mit ihren Blättern selbst auf den kleinsten Windhauch. Daher kommt die Redewendung „zittern wie Espenlaub“.

In der Bach-Blütentherapie ist die Zitterpappel eine der 38 Blüten. Dort wird sie eingesetzt, wenn es um die Themen Sensibilität, Ahnung oder Angst geht.

Ausblick

In der dritten und letzten Folge dieser Serie wird das liebliche Mädesüß mit seiner Thematik behandelt. Das dazu passende Pflanzenmärchen lädt Sie zum Kontakt mit Aspekten der „Weiblichkeit“ ein.

Roland Szabo
Diplom-Biologe, Pflanzenfotograf und Buchautor mit Schwerpunkten Heilpflanzen und homöopathische Pflanzen
info@szabo-verlag.de

Foto: © Fotoschlick / adobe.stock.com

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