aus dem Paracelsus Magazin: Ausgabe 01/2024
Qigong
Körper- und Energiearbeit in der Traditionellen Chinesischen Medizin
Ebenso wie Yoga ist Qigong ein uralter Übungsweg, der das jahrtausendealte kostbare Wissen Chinas vermittelt und einen Umgang mit der Lebensenergie Qi darstellt. Wie mache ich den Körper durchgängig für den Fluss dieser vitalen Lebenskräfte? Was braucht es, damit Körper, Geist und Seele gesund und frei von Blockaden sind? Wie vermehre ich aus eigener Kraft meine verfügbare Energie? Diese und ähnliche Fragen lassen sich erfahren in der täglichen Praxis des Qigong.
Definition
„Der Körper birgt ein gewaltiges Potenzial latenter Lebensenergie, das auch bei schwerkranken Menschen vorhanden ist. Wird diese Energie wirksam aktiviert, kann sie zur Prävention und Heilung von Krankheiten, zur Gesunderhaltung und Stärkung, zur Verhinderung frühzeitigen Alterns erfolgreich nutzbar gemacht werden“, so der TCM-Mediziner Prof. Jiao Guorui, der über 50 Jahre seines Lebens der wissenschaftlichen Erforschung des Qigong gewidmet hat. Er sagt: „Qigong ist ein Dialog mit dem Qi, ein Lauschen nach der Lebensenergie.“ (Lehrsystem Qigong Yangsheng, ML Verlag, 2019)
Wörtlich übersetzt bedeutet Qigong die Arbeit mit dem Qi oder Energiearbeit im Sinne einer Pflege und Kultivierung des Lebens (yangsheng). Hiermit ist nicht nur das gelegentliche Ausführen von Übungen gemeint, sondern in einem größeren Kontext die Lebensführung: Wie gehe ich mit meiner verfügbaren (Lebens-) Energie im Alltag um? Nehme ich mich dabei wahr? Was meldet mir der Körper? Spüre ich, was ich gerade brauche? Wie finde ich wieder in ein Gleichgewicht – körperlich, emotional und geistig? Wie gehe ich mit dem Leben um mich herum um – mit den Menschen, der Natur, dieser Erde, meiner Heimat? Zahlreiche vielgestaltige Übungen kennzeichnen die Methoden des Qigong, sie umfassen körperliche Aspekte ebenso wie psychische und ermöglichen auch eine geistig-spirituelle Entwicklung des Menschen.
Einsatz
Qigong ist ein wichtiger Bestandteil der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) und kommt in vielen Anwendungsfeldern, u.a. in Medizin, Psychotherapie, Pädagogik, Kunst und Kultur, zum Einsatz. Im Rahmen verschiedenster Gesundheitskursprogramme ist Qigong sehr beliebt, um Vitalität, körperliche und geistige Beweglichkeit, Atmung und Stoffwechsel bis ins hohe Alter gesund zu erhalten. So kann Qigong z.B. bei Verspannungen und Blockaden im Bewegungsapparat sowie bei Kopf-, Schulter- und Rückenschmerzen einen wertvollen Beitrag leisten. Auch bei Fibromyalgie, Tinnitus, Stresskrankheiten und Immunschwäche kann regelmäßiges Praktizieren zur erheblichen Linderung beitragen. Bei chronischen Atem- und Verdauungsbeschwerden, Herz Kreislauf-Erkrankungen, Nervosität und Schlafstörungen können die Übungen des Qigong Unterstützung geben.
Zielsetzungen
Wenngleich Qigong in vielen Bereichen Anwendung findet, geht es im Kern v.a. um die Ausbildung der Aspekte
• Körperwahrnehmung und Selbstgefühl
• Selbstberuhigung und Selbstregulierung
• Selbstvitalisierung und Kräfteaufbau
• Stärkung von Ressourcen und Potenzialen
• Kontakt zum Wesentlichen
• Achtsamkeit und Akzeptanz
• Pflege der Lebensführung
• Geistig-spirituelle Entwicklung
Merkmale des Qigong
Wesentliche Kennzeichen, um eine wirkungsvolle Arbeit mit der Lebenskraft Qi zu ermöglichen, sind (Guorui: Qigong Yangsheng, ML Verlag, 2001)
• Bewegung und Atmung geschehen fließend
• Stabilität und Flexibilität sind zugleich
• Üben mit Imagination und Naturbildern
• Aktivität und Entspannung: In der Bewegung ist Ruhe – in der Ruhe ist Bewegung
• Das rechte Maß: Bedürfnisse und Naturgesetzmäßigkeiten beachten
Vom Einfachen zum Schwierigen
Jede Übung wird entspannt, ruhig und gleichmäßig ausgeführt. Ebenso fließt der Atem in jeder Bewegung weich, gleichmäßig und tief. In allem Tun sucht man eine gute Erdung und Verwurzelung, die Stabilität und Halt in der unteren Körperhälfte gibt, sodass Leichtigkeit und Beweglichkeit in Schultergürtel, Armen, Nacken und Kopf ermöglicht wird. Schulterund Nackenverspannungen müssen so gar nicht erst entstehen.
Das Üben mit inneren Bildern aus der Natur und anderen Imaginationen soll zu einer angenehmen körperlichen und emotionalen Empfindung verhelfen. Das Zwiegespräch mit dem Leben im eigenen Körper ist ein Erkunden des feinen Zusammenspiels von Atem und Bewegung, der Interaktion von Denken und Empfinden, unserem Fühlen. Immer geht es um Balance, Natürlichkeit oder Naturgesetzmäßigkeiten von Lebensvorgängen im Organismus, um in ein inneres Gleichgewicht und Harmonie zu finden.
Dabei spielt das Fühlen eine zentrale Rolle, das Wiederspüren des Körpers sowie das Zurückgewinnen des Lauschens nach den Bedürfnissen von Körper und Seele, um deren Sprache zu verstehen und dann ggf. eine Veränderung in Körperhaltung, Kraftanwendung oder geistiger Einstellung vorzunehmen. Ein schrittweises Vorgehen vom Einfachen zum Schwierigen, vom Naheliegenden zum Entfernten hilft dabei sowohl im Üben als auch im Alltag.
Fallstudie
Frau S. kommt inmitten einer schweren Lebenskrise in meine Praxis. Sie leidet große körperliche und seelische Not. In den vergangenen zwei Jahren hat sie ihren Arbeitsplatz verloren, eine schwere Krankheit und später den Verlust ihres geliebten Partners erfahren. Alles in ihrem Leben scheint zusammenzubrechen. Sie befindet sich in einer Art Schockzustand und lebt nur noch von Tag zu Tag. Gedanken und Stimmungen wechseln temporeich. Ihr Körper spielt verrückt: Kreislaufbeschwerden, Schweißausbrüche, Appetitverlust, Zittrigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, schwere Schlafstörungen und anderes belasten sie sehr. Neben ihrer Psychotherapie möchte sie bei mir unterstützende Möglichkeiten in Anspruch nehmen, um innerlich wieder zur Ruhe zu kommen.
Diagnostik
Die TCM-Befunde aus Puls- und Zungendiagnose zeichnen folgendes Bild: Alle Pulse wirken schlüpfrig und schwach (deplet), v.a. diejenigen der Funktionskreise Mitte/Milz-Magen und Niere, die auf eine tiefgehende, langdauernde Erschöpfung und energetische Schwäche (depletio) von Qi und Yin hinweisen. Der Puls im Funktionskreis Herz ist saitenförmig und zart, was auf eine Schwäche von Qi und Xue hinweist, die auf langdauernde psychophysische Überlastungen zurückzuführen ist. Die Zunge ist blass rot mit dünnem weißem Belag. Dies unterstreicht die Schwäche von Qi und Xue (Säfte und Befeuchtung).
Aufgrund dieser energetischen Schwäche zeigen sich
• Starre und Verspannungen in Nacken und Rücken
• Zittern und Schweregefühl im ganzen Körper, v.a. in den Gliedmaßen
• Schweißausbrüche und schwitzigfeuchte Hände
• Schlafstörungen bis Schlaflosigkeit
• Abgeschlagenheit und Erschöpfung
• Rasche Stimmungsschwankungen
• Schmerzen im unteren Rücken
• Häufige Miktion (Wasserlassen)
Das Behandlungsprinzip besteht darin,
• Qi zu vermehren,
• Yin zu stützen und zu stärken,
• den Geist (shen) zu beruhigen,
• Xue (Säfte) zu stützen und zu kräftigen, um die Unruhe und die Schlafstörungen
zu beruhigen.
Einsatz von Qigong
Auch in TCM-Fachkliniken stellt Qigong einen wichtigen heilkundlichen Therapiebaustein dar und wird dort dreimal täglich zu je 20-30 Minuten praktiziert.
Frau S. empfehle ich zu Beginn ein langsames, aufbauendes Qigong-Training. Innere, nährende Übungen sind zielführend. Die Patientin erwähnt nach kurzer Zeit, dass ihr die Übungen bisher schon sehr guttun. Gerade in spannungsreichen Zeiten helfen sie ihr, sich wieder auf ihre Mitte zu besinnen, dadurch Überemotionalität wegzunehmen und zur Ruhe zu kommen. Das Bild eines großen, ruhigen Baumes, der trotz diverser Widrigkeiten fest im Leben steht, der seinen Platz in seinem gewohnten Umfeld hat, sei für sie sehr nützlich und gut übertragbar.
Verlauf
Im Laufe mehrerer Monate erarbeitet sie sich eine kleine Reihe von für sie anstrengenden Bewegungsübungen, um sich aus der inneren „Schockstarre“ herauszumanövrieren. Es handelt sich um Sequenzen aus den Acht Brokaten, z.B. „Blicke zurück auf Krankheiten und Kümmernisse“, „Fasse die Füße“ und „Stärke Hüften und Nieren“. Gerade in Zeiten, wo sich alles in Auflösung befände, wo nichts mehr so sei, wie es war, würde ihr die Vorstellung helfen, die Vergangenheit abzuschließen und hinter sich zu lassen – alles Belastende zu einem Päckchen zu schnüren und es an einen roten Luftballon gehängt loszulassen, indem ein „neuer“ Wind es davontreibt.
Die Rückenübungen „Fassen der Füße“ und „Herzfeuer vertreiben“ lassen die Patientin Assoziationen von Stärke finden, z.B. eines breiten Rückens, der nicht so leicht zu erschüttern ist. Schwierigkeiten bereiten ihr spannungsgeladene Übungen wie „Einen Bogen spannen“, weil es ihr kräftemäßig schwerfällt, dabei nicht „auseinanderzufallen“ oder überhaupt ein Ziel in Betracht zu ziehen. Diese Übungen erarbeitet sie sich erst später.
Besonders gut tun Frau S. die Abschlussübungen. Hier führt man die Hände zurück zum Dantian, dem Körperzentrum im Bauchraum, was die Energie verdichtet. Das Gefühl der
Qigong
gesammelten Kraft wird spürbar und beflügelt auf dem gewünschten Weg.
Ausblick
Frau S. hat mit Qigong mutig und beständig einen Weg beschritten, um ihre Lebenskraft zurückzugewinnen. Die neue Erdung und Zentrierung helfen ihr, sich selbst körperlich und psychisch zu stabilisieren. In den Bewegungsbildern kann sie immer wieder auftauchende Assoziationen ihrer Lebenssituation umwandeln. Allmählich scheint es ihr zu gelingen, Härte in weiche Kraft, innere Starre in Bewegung sowie äußere Fassade bei innerer Leere in ein neues Gefühl von Hoffnung und Leben zu wandeln.
Übung: Reguliere den Atem – beruhige den Geist
Ausgangstellung ist ein schulterbreiter Stand. Die Arme sind leicht gebeugt, die Hände befinden sich vor dem Dantian (Unterbauch), als würde man einen unsichtbaren (Qi-)Ball halten und umfassen. Mit der Einatmung steigen die Hände auf Brusthöhe und wenden sich mit den Handflächen nach unten. Dabei haben die Hände 2-3 faustbreit Abstand zum Brustkorb,
um Enge oder übertriebene Weite in Brustkorb und Atmung zu vermeiden. Mit dem nächsten langsamen, sanften Ausatmen werden die Hände bis zum Unterbauch geführt, als würde man sie gegen die Auftriebskraft von Wasser senken. Hier wenden sich die Hände wieder. Diese Bewegungsabfolge wird mehrmals wiederholt.
Mit dem Steigen und Sinken der Hände erfolgt im Körper ebenfalls ein leichtes Steigen und Sinken, was an den Fußsohlen beginnt und endet. So kann eine „atmende Ganzkörperbewegung“ erfahren werden. Beim Heben und Senken bleiben Atem und Energieschwerpunkt verbunden mit der Leibesmitte; beim Senken der Hände stellt man sich vor, den Geist in dieses Körperzentrum hinabzuführen und die Aufmerksamkeit in das Dantian hineinzulenken – Qi folgt nach. Dies sollte mehrmals ohne Druck ausgeführt werden, bis man innerlich ruhiger wird und in sein inneres Gleichgewicht, sein Zentrum, zurückfindet.
Fazit
Bei einer fundierten Anwendung der Schlüsselprinzipien des Qigong und regelmäßiger Übungspraxis lassen sich viele Beschwerden lindern oder gar vertreiben. „Wenn man sich auf die rechte Weise bewegt, wird das mit der Nahrung aufgenommene Qi umgewandelt, dann zirkulieren die pulsierenden Säfte ungehindert und Krankheit kann nicht entstehen“, schrieb der Arzt Hua Tuo im Jahr 200. Die geistigen und körperlichen Übungen in Ruhe und Bewegung aktivieren die jedem Menschen innewohnenden Selbstheilungskräfte und helfen, den Anforderungen des Alltags mit Ruhe, Leichtigkeit und Freude zu begegnen.
Marianne Wegener
Körpertherapeutin der TCM, Tuina- und Shiatsupraktikerin, Zusammenarbeit mit auf Stresskrankheiten spezialisierten Arztpraxen, Dozentin an den Paracelsus Gesundheitsakademien
mw@wu-chi.net